36. Innovationen für Papier

Der Markt

Die Papierindustrie spielt eine herausragende Rolle in der Weltwirtschaft mit jährlichen Umsätzen von über 500 Milliarden US-Dollar und einer Produktion von über 300 Millionen Tonnen an Endprodukten. Die US-Industrie hat hiervon einen Anteil von einem Drittel, die europäischen Mitstreiter halten ein Fünftel. Die Industrie hängt ab von der Forstwirtschaft mit rotierender Ernte im Rhythmus von gerade einmal sieben Jahren über einen Zeitraum von hundert Jahren. Die Kapitalinvestitionen in neue Anlagen erreichen über eine Milliarde Dollar für Maschinen, die mit 100 km/h Papier ausspucken und bei einer jährlichen Kapazität von 500 000 Tonnen, die durch Kaskadenwirtschaft angetrieben wird. Die europäische Industrie hat 245 000 Direktbeschäftigte, weltweit sind es etwa eine Million.

c36_paper01

Beim Recycling liegt die europäische Industrie vorn. 42 Prozent allen neuen Papiers werden aus Altpapier hergestellt. Auch in den Vereinigten Staaten setzt sich der Trend fort mit inzwischen 119 Mühlen, die nur Altpapier verwenden. Es muss betont werden, dass die Menge Papier, die dem US-Markt zur Verfügung steht, von einem Spitzenwert von 105 Millionen Tonnen im Jahr 1999 auf 79 Millionen Tonnen ein Jahrzehnt später gesunken ist. Trotzdem sind nur 36 Prozent der bei der Herstellung beteiligten Fasern in den USA aus Altpapier. Andererseits werden in den USA 63,4 Prozent allen Papiers zum Verbrauch recycelt. Immer noch stellen Karton und Verpackungen 35 Prozent des gesamten Hausmülls. Glücklicherweise ist die Gesamtmenge des Papiers, das auf der Müllhalde landet, in den letzten 20 Jahren um 30 Prozent zurückgegangen.

Rohmaterialien (Zellstoff und Fasern) machen ein Drittel der bei der Papierherstellung anfallenden Kosten aus, während die Energiekosten bei etwas über 35 Prozent liegen. 90 Prozent allen Papiers wird aus Holz gewonnen. Indien bevorzugt insbesondere Bambus, der pro Hektar und Jahr bis zu viermal mehr Fasern gibt als schnell wachsender, genetisch modifizierte Kiefer oder Eukalyptus. Das Recyceln von einer Tonne Zeitungen spart eine Tonne neuer Bäume, während das Recyceln von hochwertigem Kopierpapier sogar zwei Tonnen Holz einspart. Recyclingpapier kann bis zu 70% Energie sparen. Da jedoch die Papierfabriken einen Großteil der von ihnen benötigten Energie aus der Verbrennung von Borken, Wurzeln und Lignin gewinnt, bedeutet ein steigender Anteil von Recycling eine Minderung des Einsatzes erneuerbarer Energien für die Fabriken, die durch andere Energieträger ersetzt werden müssen. Außerdem sind viele Recycling-Papierfabriken nah bei Städten, und dort sind die Energiekosten tendenziell höher.

Die Innovation

Die Zellstoff- und Papierindustrie sucht gezielt nach Wegen, weniger Chemikalien einzusetzen. Die dramatischen Umweltauswirkungen von Dioxin, einem Nebenprodukt, das nicht biologisch abgebaut werden kann und sich seit Jahrzehnten anhäuft, haben die Industrie gezwungen, alternative Bleichmöglichkeiten, hauptsächlich Wasserstoffperoxyd, zu suchen. Weiterhin soll der vor einem Jahrhundert erfundene Gebrauch von Glaubersalz, auch bekannt als Kraft-Aufschluss, der das Papier viel stärker macht, durch ein Enzymverfahren ersetzt werden. Dies wurde ursprünglich vom Nobelpreisträger Prof. Steven Chu, dem Energieminister in der Obama-Regierung, entdeckt. Das Verfahren ist inspiriert durch die Art, wie Termiten Holz mit ihren Mundwerkzeugen verarbeiten. Eine Gruppe malaysischer Forscher an der Universität von Sarawak hat entdeckt, wie eine Familie von Enzymen in Palmabfällen und Reisschalen hergestellt werden kann, die ohne Chemie Tinte aus recyceltem Papier entfernen kann.

Processed by: Helicon Filter; MINOLTA DIGITAL CAMERA

Prof. Dr. Janis Gravitis, ein Experte der Holzchemie mit langjähriger Erfahrung am Lettischen Institut für Holzchemieforschung in Riga untersuchte über Jahrzehnte die Fasern von Bäumen und anderen Pflanzen. Als Physikochemiker erforschte er das Verhalten von Holz unter Einwirkung von Druck und Temperatur. Er erkannte sofort, dass sich die Holzverarbeitungsindustrie nur auf Zellulose konzentrierte, die nur 20 Prozent des gesamten Weichholzes ausmacht. Der Rest, bestehend aus Lignin, Hemizellulose und Lipiden, wird normalerweise als chemischer Cocktail verbrannt. Er entwickelte ein Verarbeitungssystem, das ohne Chemikalien, allein durch Druck und Temperatur, die Aufspaltung von Holz in vier verschiedene Teile ermöglicht. Die Technik, die unter Experten als „Dampfexplosion“ bekannt wurde, ermöglicht die Gewinnung jeder einzelnen Komponente: reines Lignin als sauberer Treibstoff, Hemizellulose als Rohmaterial für essbaren Zucker, Lipide als Öl und Zellulose zur Papierherstellung.

Janis und sein Team haben dann ihre eigene Testanlage gebaut, um alle Bestandteile bei minimalem Energieeinsatz und einem Bruchteil des normalerweise benötigten Wassers herauszulösen. Die Resultate waren beachtenswert. Fasern für Papier stellen nur einen kleinen Teil der gesamten Biomasse dar. Verglichen mit Zuckerrohr und Bambus, die viel mehr Zellulose produzieren, liegt die langfristige Wettbewerbsfähigkeit von Holz zur Papierherstellung in der Schaffung mehrerer Erträge durch alle vorhandenen Ressourcen. Wenn alle vier Hauptbestandteile sowie ein geschlossener Wasserkreislauf genutzt werden, entsteht ein neues Geschäftsmodell. Dieses innovative Modell, das vor allem auf den Gesetzen der Physik basiert und Diversifikationsvorteile durch mehrere Cashflows anstrebt, setzt gleich drei der Charakeristika für die Blue Economy um.

Erster Umsatz

Lettische Wissenschaftler für Holzchemie hatten praktisch keinen Kontakt zur Außenwelt, bis der Kalte Krieg mit dem Mauerfall 1989 endete. Die königlich schwedische Akademie der Wissenschaften hält die lettische Forschungsgruppe für herausragend mit solider akademischer Basis und der Fähigkeit, auf diesem einzigartigen Gebiet der Holzchemie Neuerungen einzuführen. Gegen Ende des Kalten Krieges hatten Janis und sein Team bereits Techniken zur Holzverarbeitung entwickelt, durch die faserhaltige Biomasse für mehr Stärke und Haltbarkeit ohne Epoxide oder Phenol geformt werden konnte – Formaldehyd-Bindestoffe wie bei Hartfaserplatten oder Sperrholz. Das Team für Techniken der Extraktion von Furfural, einer Biochemikalie, die in der Herstellung synthetischer Polymere genutzt wird, behandelte die Überreste der Aufspaltung durch Dampfexplosion weiter. Durch diese Integration von Technologien kann Holz als Rohmaterial zu fast 100 Prozent genutzt werden.

c36_paper03

Die Chance

Wie bereits im Falle von Algen (Beispiel 21) verliert der Ansatz des „Kerngeschäfts“ und der „Kernkompetenz“ die Chancen zur Schaffung zusätzlicher Cashflows durch verfügbare Ressourcen aus dem Blick. So wie Algen Lebensmittel, Treibstoff und reine Chemikalien liefern, sollte Holz nicht allein zur Zellulosegewinnung dienen und die Überreste verbrannt werden. Die Erfahrung von Janis Gravitis und seinem Team, die ihre Forschungen fortsetzen, zeigt, dass ein Baum vielfältige Cashflows schaffen kann, vorausgesetzt, die Verarbeitungstechnologie stellt sich um vom chemischen „Verbrennen“ allen Materials, das nicht Zellulose ist, hin zu einer Trenntechnik, die die Gewinnung der einzelnen Bestandteile ermöglicht. Dies ist unter dem Namen der Bioraffinerie bekannt. In Zeiten, in denen wir dringend die Effizienz der Ressourcen steigern müssen, sollte die kommerzielle Extraktion von nur 40-50 Prozent sich entwickeln zur Schaffung von mindestens drei- bis viermal mehr Einnahmen und so Jobs geschaffen sowie der CO2-Fußabdruck der Industrie reduziert werden.

c36_paper04

Die Papier- und Zellstoffindustrie wird behaupten, dass sie die „Abfälle“ als Treibstoff benötigt. Wie Janis aufzeigt, ist hier der einzige saubere Treibstoff das Lignin, das in reiner Form nach Gewinnung durch Druck und Temperatur eigentlich zu wertvoll ist, um einfach nur verbrannt oder eben nicht verbrannt zu werden. Dies ist ein neues wettbewerbsfähiges Rahmenwerk, durch das neue Mitstreiter die Möglichkeit haben werden, in Märkte einzusteigen, die traditionell durch wenige Großfirmen beherrscht werden. Es ist Zeit, diesen Eindruck zu ändern.

Bilder: StockXCHNG

0 Antworten

Hinterlassen Sie einen Kommentar

Wollen Sie an der Diskussion teilnehmen?
Feel free to contribute!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert *