41. Strom aus dem Meer

Der Markt

Über die nächsten zwei Jahrzehnte werden schätzungsweise 190 Milliarden US-Dollar in Technologien für neue Energieträger investiert, die auf Gezeiten, Strömungen und Wellen basieren. Die Internationale Energieagentur schätzt, dass Gezeitenkraft 200 Terawatt pro Jahr generieren könnte und Wellenkraft sogar 8000 Terawatt. Insgesamt könnten so schätzungsweise 80 000 Terawatt Strom gewonnen werden. Innerhalb eines Jahrzehnts könnten die Vereinigten Staaten 10 Gigawatt aus Wellenkraft und drei Gigawatt aus Gezeitenkraft produzieren. Das zu gewinnende Potential in den USA könnte 6 Prozent von deren Strombedarf decken. Die meisten Technologien zur Gewinnung von Energie aus Ozeanen werden jedoch in Europa entwickelt und von Politiken zum Emissionsrechtehandel unterstützt, die alle erneuerbaren Energien zu einem aufstrebenden Sektor machen.

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Die Regionen mit dem größten Potential für Wellenkraft sind unter anderem Alaska, die Nordsee, Nordost-Kanada, das östliche Kap von Südafrika, Südbrasilien und Argentinien, Japan, Indonesien und Südaustralien. Die Regionen mit einem großen Potential für die Nutzung von Gezeitenkraft schließen die Beringstraße, den Nordosten Brasiliens, die Großen Seen von Nordamerika, die Nordkaps von Norwegen bis Russland, die Koreanische Halbinsel bis zum Chinesischen Meer, Nordwestaustralien und Neuseeland ein. Das einzige Land das erfolgreich ein Gezeitenkraftwerk betreibt, ist Frankreich. Die La Rance-Anlage in der Bretagne generiert pro Jahr 240 MW Strom seit ihrer Erbauung im Jahr 1966. Das Vereinigte Königreich ist Pionier auf dem Gebiet der Wellenenergie mit dem European Marine Energy Center (EMEC). Die USA starteten auf Hawai’i eine weitere Form der Energiegewinnung aus dem Meer: die Nutzung von Temperaturunterschieden, auch bekannt unter dem Namen Ocean Thermal Energy Conversion (OTEC).

Eine breite Palette von Firmen hat sich der Entwicklung und dem Bau von Anlagen gewidmet, die die großen Herausforderungen auf dem Gebiet von Umwelt und Klima bei der Energiegewinnung angehen. Ocean Power Delivery (Schottland) hat sich mit Vattenfall (Schweden), Enersis (Portugal) und E.On (Deutschland) zusammengeschlossen. Theoretisch könnten die verschiedenen Anlagen 40 MW Strom pro Küstenkilometer bei leichtem Wellengang (1 Meter) gewinnen und 1000 MW pro Kilometer, wenn die Wellen 5 Meter hoch sind.

Die Innovation

Wasser ist eine Flüssigkeit, daher enthalten Wellen und Strömungen ungefähr 1000 Mal mehr kinetische Energie als Wind. Dies ermöglicht es, in kleineren Anlagen mehr Strom zu produzieren. Zusätzlich gibt es rund um die Uhr Wellen. Die Innovationen auf dem Gebiet der Mechanik und Wartungen einerseits und die Verminderung von negativen Umwelteinflüssen andererseits stellen für Ingenieure eine Herausforderung dar, da Wellen und Strömungen große Kräfte bei niedriger Geschwindigkeit haben. Die Gewinnung von Elektrizität erfordert hohe Geschwindigkeiten. Ein weiterer erschwerender Faktor für die Ingenieure sind die rauen Wetterbedingungen. Jedes schwimmende oder unter Wasser angebrachte und mit Kabeln und Ketten am Meeresgrund befestigte Gerät muss den Kräften der Stürme und sogar Tsunamis standhalten.

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Tim Finnigan, ein außerplanmäßiger Professor an der Universität von Sydney mit einem Titel in Umwelt-Strömungsdynamik, hat beobachtet, wie sich Riesentang im Rhythmus von Strömungen und Wellen fortbewegt. Er erkannte, dass Riesentang (Laminaria spp) um einen halben Meter pro Tag auf eine Länge von bis zu 80 Metern wächst. Noch besser: der Tang bewegt sich mit der Strömung, die reichhaltige Nährstoffe bietet. Bei Stürmen oder Tsunamis bleiben diese riesigen Unterwasserwälder einfach flach am Meeresboden liegen. Prof. Finnigan untersuchte die Fließdynamik der Bewegungen des Tangs und wandelte diese in mathematische Modelle um, die als Muster für einen Stromgenerator dienten. Sein Ansatz überwindet die Herausforderungen hinsichtlich sowohl Geschwindigkeit als auch Verankerung. Seine Entwicklung basiert auf der Geometrie von bewährten Systemen der Natur. Dies ist eins der Kernprinzipien der Blue Economy.

Überdies schwimmen seine patentierten bioWave-Generatoren im Ökosystem des Ozeans wie Tang. Seine Apparaturen besitzen keine beweglichen Teile wie Schrauben oder Wasserräder; ebenso wenig schaffen sie Hindernisse, die den Fluss von Nährstoffen hemmen und verschlammen, und stellen daher keine bekannte Gefahr für das Leben im Meer dar. Das wichtigste Detail ist vielleicht, dass bioWave sich im Fluss der Strömungen und Wellen bewegt. Anstatt die Mechanik gegen übermäßige Kräfte durch unvermeidbare Stürme zu befestigen, konnte Prof. Finnigan das beste Sicherungssystem übernehmen: Wenn ein Tsunami im Gebiet entsteht, bleibt bioWave wie der Farn flach am Grund liegen. Obwohl Wellen und Meeresströmungen als Energiequelle lange Zeit als unwirtschaftlich aufgrund der widrigen Witterungsumstände galten, hat Prof. Finnigan Feldforschungen angesetzt und von der Intelligenz der größten Algenarten im Ozean gelernt.

Der erste Umsatz

Prof. Finnigan gründete daraufhin in Sydney die Firma BioPower und ergänzte seine Einsichten über die Bewegungen von Farnen durch Beobachtungen des geometrischen Modells, wie Haie, Thunfische und Makrelen sich fortbewegen. Dies ergab eine Palette von Patenten, die unter dem Namen BioWave und BioStream patentiert wurden. Es werden bereits Projekte in Australien, Spanien und den USA entwickelt, die diesen Ansatz der Energiegewinnung aus Wellen und Strömungen zu einem marktwirtschaftlich höchst bedeutsamen Durchbruch machen. Da es sich um ein Modulsystem handelt, ermöglicht es Einheiten von 250, 500 und 1000 MW, die wie ein Park unsichtbar in Küstennähe installiert werden, ohne das Leben im unterseeischen Ökosystem durch übermäßige Verankerungen zu belasten.

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Die Chance

Die Marktentwicklung hat gerade erst begonnen. Das Interesse an Investitionen in Hochseeanlagen ist groß und im Vergleich zur Komplexität von Windparks bietet BioPower Einfachheit und Sicherheit. Die naheliegendste kommerzielle Umsetzung liegt darin, kleine Inselgemeinden energietechnisch autark zu machen, indem bioWave-Installationen im Meer vor dem zu versorgenden Ort stationiert werden. Die Energiequelle ist so sicher wie die Umlaufbahn des Mondes und die Schwerkraft und kann daher auch zur Grundstromversorgung dienen. Die Energieversorgung durch bioWave und bioStream ist so gewiss, dass ein Park aus einem Dutzend Anlagen 10 000 Bewohner unabhängig vom Stromnetz macht, und sie bräuchten nicht einmal mehr Lichtschalter. Die Versorgung mit Energie könnte sich so von Knappheit zum Überfluss entwickeln und dabei umweltschädliche Dieselgeneratoren ersetzen durch einen unsichtbaren, geruchlosen und kontinuierlichen Fluss.

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Bilder: StockXCHNG

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