43. Entchlorung
Der Markt
Der Weltmarkt für Chlor wird für 2010, basierend auf einer weltweiten Produktionskapazität von 80 Millionen Tonnen, auf 24 Milliarden US-Dollar geschätzt. Während die Vereinigten Staaten 1,3 Millionen Tonnen weniger produzierten und damit auf 13,8 Millionen Tonnen im genannten Jahr kamen, nahm die Produktion in Europa um 500 000 Tonnen zu und erreichte damit knapp über 9 Millionen Tonnen. Den größten Zuwachs verzeichnete China und erreichte mit 25 Millionen Tonnen einen Weltmarktanteil von fast einem Drittel. Während die globale Nachfrage zwischen 2011 und 2015 pro Jahr um 4,4 Prozent wachsen wird, können die Chinesen erwartungsgemäß ihre Kapazitäten für 2011 um 2 Millionen Tonnen steigern.
Chlor wird produziert, indem Kochsalz unter Strom gesetzt wird. Da Chlor hochreaktiv in Wasser ist, wurde Quecksilber eingesetzt, um den Prozess zu neutralisieren. Die amerikanische Chlorindustrie verbraucht immer noch 79 Tonnen Quecksilber für knapp 14 Millionen Tonnen Chlor. Die europäische Industrie hat sich verpflichtet, bis 2020 kein Quecksilber mehr zu verwenden, verbraucht jedoch zurzeit immer noch 0,92 Gramm Quecksilber pro Tonne Chlor. Chlor wurde vor 200 Jahren in Schweden von Karl Scheele entdeckt. Die Statt Pittsburgh war vor genau einem Jahrhundert die erste, die Chlor ins öffentliche Trinkwasser einleitete, um Bakterien abzutöten. Dies führte zu einem dramatischen Anstieg der Nachfrage und einer merklichen Abnahme von Epidemien.
In Wasser gelöstes Chlor reagiert mit Eisen und Mangan und somit auch mit Bakterien, wodurch die Verbreitung von Krankheiten eingedämmt wird. Zystenbildende Protozoen (Cryptosporidium) können jedoch selbst bei hoher Konzentration nicht beseitigt werden. Das amerikanische Wisconsin State Hospital stellte fest, dass 80 Prozent des freien Restchlors durch Absorption über die Haut in den menschlichen Körper gelangen. Zwar war es jahrzehntelang wirkungsvoll in der öffentlichen Gesundheitsversorgung, doch es ruft auch Allergien hervor und wird in Verbindung mit Krebserkrankungen, Arteriosklerose und Anämie gebracht. Die Ansammlung über lange Zeiträume verursacht Schädigungen der Proteine, trockenes Haar und Ausschläge sowie eine hohe Zahl freier Radikale, die den Alterungsprozess beschleunigen.
Die Innovation
Seit die Environmental Protection Agency (EPA) in den Vereinigten Staaten den Gemeinden empfohlen hat, die Chloranteile im Trinkwasser zu verringern und zu begrenzen, wird auf breiter Ebene nach Alternativen gesucht. Jedoch ist der Einsatz durch Gesetze und Verordnungen vorgeschrieben. Die Gesundheitsbehörden zögern beim Ersatz von Chlor oder versuchen es mit chemischen Alternativen wie dem wirkungsvollen Triclosan (polychloriertes Phenoxyphenol), das langfristig jedoch noch weitere unbeabsichtigte Folgen hat. Der Vorteil des Chlors ist, dass seine schädlichen Eigenschaften weithin bekannt sind. Es bleibt die Möglichkeit, weiterhin Chlor ins Trinkwasser zu geben, es jedoch vor dem Endverbrauch wieder zu entfernen. Die Filtrierung durch Aktivkohle, Mineralien oder sogar Ionentauscher hat einem neuen Industriezweig mit Hunderten von Anbietern zum Aufschwung verholfen. Die Filter jedoch werden zu Abfall und enden auf Müllhalden, wo sie weiter die Umwelt verschmutzen und oft noch höheren Energieverbrauch verursachen als eingangs die Chlorherstellung.
Hu Bor Yu, Liu Chen Panc und Liang Teh Ming, Forscher am Industrial Technology Research Institute (ITRI) in Taiwan, haben beobachtet, dass fließendes (chloriertes) Wasser kinetische Energie besitzt, die seine Kollegen erfolgreich zur Stromgewinnung nutzen konnten. Diese elektrische Energie, die beim Fluss durch das Rohr entsteht, steigert die laminare Strömung durch eine kleine geometrische Änderung: Das Rohr wird verengt. Die gewonnene Elektrizität wird an eine Anode geschlossen und der so geschaffene Elektrolyseur neutralisiert an Ort und Stelle das chemische Potenzial des restlichen Chlors. Dieser Prozess benötigt keine Energiezufuhr von außen, verbraucht keine Materialien, reagiert sofort im Fluss des Wassers, ist langlebig, billig zu installieren und wartungsfrei. Die Performance verbessert sich bei höherer Fließmenge und Wassertemperatur.
Die möglichen Anwendungen gehen über Chlor hinaus. Der selbe Prozess kann Perchlorsäure (HClO4), Natriumsulfit (NaSO3) und ähnliche gesundheitsschädigende Verunreinigungen im Wasser zersetzen. Hier entsteht ein neuer Ansatz zur Wasserreinigung, bei der traditionell Chemikalien und Filter den Markt dominiert haben. Dies bedeutet, das „etwas durch nichts ersetzt“ wird bzw. die Chemie (teilweise) durch Physik, zwei Kernprinzipien der Blue Economy.
Der erste Umsatz
Das Forschungsteam des ITRI hat schnell begriffen, dass diese Technologie breite Anwendung in Wohnhäusern finden kann, da die gesundheitsschädigenden Eigenschaften des (übermäßigen) Einsatzes von Chlor gut dokumentiert sind. Der Einbau von energieautarken Entchlorungsanlagen in Kombination mit Lichtern, die die Wassertemperatur durch Sensoren mit eigener Stromquelle anzeigen, bietet darüber hinaus eine Bündelung von Innovationen für mehr Sicherheit im eigenen Heim. Hinzu kommt, dass bei steigender Wassertemperatur die Effizienz der Entchlorung noch erhöht wird. Diese Geräte sind kostengünstig und benötigen keine zusätzliche Verkabelung, es entsteht eine Plattform für viele findige Unternehmer, die sich auf dem Markt etablieren wollen.
Die Chance
Während der Hausgebrauch ein offensichtlicher Markteinstieg ist, kann die Anwendung noch mit vielen weiteren Innovationen kombiniert werden, z.B. mit der Wirbeltechnologie bei der Eisherstellung, bei der durch den Chloranteil mehr Energie benötigt wird, damit das Wasser erstarrt. So könnte ohne teure Apparaturen noch weitere Energie eingespart werden. Da die Energiegewinnung aus fließendem Wasser in Systemen mit hohem Volumen bereits bewiesen ist und der Fluss nur minimal abnimmt, wenn er zusätzlich 50 Watt Strom zum Betreiben lichtstarker LED-Strahler produziert, ist das System bereit für Anwendungen auf industrieller Ebene wie die Produktion von hochreinem Wasser für die Lebensmittel- und Getränkeindustrie, die derzeit von teuren Filtern abhängt, die monatlich oder sogar wöchentlich ersetzt werden müssen.
Zwar ist es unmöglich zu übersehen, dass der Einsatz von Chlor allgemein vermieden werden sollte, doch wir sollten der Entwicklung zum Guten und Besseren hin nicht im Wege stehen. Da der Einsatz von Chlor im Trinkwasser meist reguliert ist, erlaubt uns die Möglichkeit der Entchlorung mit eigener Stromquelle eine Übergangslösung. Sie bringt auch Zeit für die Suche nach Ersatzstoffen und den Blick frei, das Stigma des Chlors zu überdenken, indem die Quelle für die Umweltverschmutzung energie- und materialeffizient beseitigt werden kann. Hier bietet sich eine Plattform für das Unternehmertum, die Arbeitsplätze schafft: eine der Prioritäten der Blue Economy.
Bilder: StockXCHNG
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