50. Kein Formen
Der Markt
Im Jahr 2010 erreichten die weltweiten Verkaufszahlen für Formwerkzeug zwischen 600 und 650 Milliarden US-Dollar. Nach der Wirtschaftskrise von 2008 gingen die Umsätze auf diesem strategischen Sektor zurück und fielen in einem Jahr um fast 17 Prozent, dabei sank die Kapazität auf 64 Prozent. Seit 2010 erholt sich die Industrie wieder und bestätigt ein Wachstum der Maschinen zur Herstellung von Formen um 9 Prozent in einem Jahr für China. Der Markt teilt sich in zwei Segmente: Spritzgussformen für Plastik und Druckgussformen für Metalle. Die europäische Spritzgussform-Industrie ist 120 Milliarden Dollar schwer, hinzu kommen 15 bis 20 Milliarden Dollar für Dienstleistungen in der Druckgusstechnik. Das amerikanische Geschäft in Druckgussformen brachte es letztes Jahr auf knapp über 7 Milliarden Dollar und schätzungsweise 63 000 Angestellte. Im Laufe des letzten Jahrzehnts schrumpfte der Arbeitsmarkt in der Druckgussbranche auf weniger als die Hälfte zusammen, dabei stieg die Produktivität lediglich um 20 Prozent.
Das Formen von Metall in Gussformen ist eine 6000 Jahre alte Industrie. Die Formen, die entscheidend für die Weltwirtschaft sind, sind von je her eine Kombination von Wissenschaft und Kunst. Für ein Auto können bis zu 300 Formen für Stoßdämpfer, Armaturenbretter, Tassenhalter, Scheinwerfer, Lenkräder, Getriebekasten und Zylinder benötigt werden. Für einen Kühlschrank sind 150 Formen nötig und mindestens 30 für einen Computer. 90 Prozent allen verarbeiteten Metalls und 32 Prozent allen Plastiks werden in Formen gegossen. Hochgenaue Formen besitzen eine Präzision von bis zu 0,02 Millimetern für empfindliche Auto- und Elektronikbauteile. Mit einer einzigen Form lassen sich 800 000 Stühle, eine Million Mülltonnen, zwei Millionen Plastikeimer und 10 Millionen Fernsehergehäuse herstellen.
Europa und Japan verlieren zunehmend and Wettebewerbsvorteilen gegenüber China, Indien und den Philippinen, die Formen von vergleichbarer Qualität zu einem Zehntel des Preises herstellen. Da die Form für ein Spielzeug in einem Industrieland 25 000 Dollar kostet und in einem Schwellenland nur 2000, lässt sich leicht erklären, warum die Spielzeugindustrie sich nach China verlagert hat. Zunächst ist die Arbeitskraft billiger, doch vielleicht ist noch entscheidender, dass die Formen – der wichtigste Anteil Vorabkosten für die Massenherstellung – zehnmal günstiger sind. Dies ermöglicht mehr Unternehmern den Marktzugang. Die Gruppe Ningbo China aus Zhejiang ist inzwischen der weltgrößte Produzent für Werkzeug zur Formherstellung; sie kontrolliert etwa die Hälfte des Binnenmarktes und verschafft sich auch in Übersee Zugang.
Die Innovation
Die Industrie erstrebt Verbesserungen der Qualität und Haltbarkeit bei gleichzeitiger höherer Flexibilität. Ein Schlüsselfaktor in der Industrie jedoch ist der Umstieg von Metallen auf Kunststoffe. Ein Metallteil, das aus mehreren Bauteilen besteht, muss gegossen, verarbeitet und vernietet werden, um seine endgültige Form zu erlangen. Ein Plastikteil kann in einem Arbeitsschritt durch eine Mehrfachform hergestellt werden, wobei Zeit und Geld eingespart werden. Dies erklärt den Umstieg von der Druck- hin zur Spritzgussform der letzten Jahrzehnte. Im Spritzgussgeschäft werden jedoch 18 000 verschiedene Kunststoffe eingesetzt und jedes Jahr kommen etwa 750 neue Zusammensetzungen hinzu. Dies erschwert erheblich das Recycling und die Schaffung von Produkten mit Mehrwert aus Abfallströmen, wodurch die Umwelt stärker belastet wird und eine Abhängigkeit von nicht erneuerbaren Ressourcen entsteht, d.h. Plastik aus Erdöl.
Mario Fleurinck hat eine Grundausbildung als Ingenieur und Betriebswirt bei Diamond Boart, einer Expertenfirma für Industriediamanten. Er verschaffte sich weitere Erfahrungen in der Weltraumindustrie in den USA sowie Europa. Dort lernte er die Herstellungen von Metallteilen mit hoher Dichtigkeit aus Metallpulver durch Laserfusion, auch unter dem Namen der generativen Fertigung bekannt. Dieser innovative Prozess schafft Bauteile direkt aus elektronischen Daten ohne Wasser, Formen, Maschinen, Nieten oder Polieren. Mr. Fleurinck bemerkte, dass er die Möglichkeit hatte, eine Industrie zu schaffen, die mit hoher Geschwindigkeit, Effizienz und Flexibilität jede dreidimensionale Form herstellen kann, und das bei weniger Arbeitseinsatz in der Fabrikhalle. Der Ersatz von „Etwas“ durch „Nichts“ (eine Form durch keine Form, Wasser durch kein Wasser) ist ein Hauptkennzeichen der Blue Economy.
Der erste Umsatz
Herr Fleurinck übernahm die Leitung der kleinen belgischen Firma Melotte, einem herkömmlichen Formenhersteller im Ostteil des Landes, und beschloss, die Anlage in einen Maßstab für Direkte Digitale Fertigung (Direct Digital Manufacturing, DDM) umzuwandeln. Er schuf die virtuelle Fabrik, die die komplexesten und verschiedensten Bauteile mit größter Genauigkeit durch Dateisharing im Netzwerk herstellt, die sofortige Anpassungen in Technik und Design ermöglichen. Zwar gibt es Tausende von Möglichkeiten der Anwendung, doch seine erste Umsetzung konzentrierte sich auf Zahnprothesen.
In zwei Jahren stellte Melotte 10 000 Einheiten durch schnellste Umstellung des Unter-nehmenskonzeptes im Industriesektor her und bot höchste Präzision bei einem Material-einsatz von nur einem Bruchteil. Während DDM höhere Vorausinvestitionen verursacht, ist die Effizienz unvorstellbar gegenüber dem traditionellen Produktionsmodell. Ein Formel-1-Lenkrad aus leichtem Titanium mit einem Gewicht von 300 Gramm wird aus einem Vier-Kilo-Block Ausgangsmaterial hergestellt. DDM liefert dasselbe Lenkrad bei nur 10 Prozent Ausschuss entsprechend 30 Gramm; das erste Stück wurde in ein solarbetriebenes Rennauto eingebaut. Diese drastische Verbesserung der Materialeffizienz um das Zwölffache (4 kg statt 330 g) und Reduktion der Abfälle um das Hundertfache (3 kg statt 30 g) ohne Einsatz von Wasser in der Herstellung ist eine der innovativen Technologieplattformen, die benötigt werden auf dem Weg der Gesellschaft hin zur Nachhaltigkeit.
Die Chance
Die Reduzierung des Materialbedarfs auf ein Zwölftel hallt durch die Wirtschaft und zwingt nicht nachhaltige Geschäftsstandards der heutigen Gesellschaft, vom Bergbau über Verhüttung bis hin zum Energieverbrauch, ihre Herstellungskonzepte zu überdenken. Die von Herrn Fleurinck eingeführten Innovationen nähern unser Wirtschaftsmodell auch einer Form des effizienten, werterhaltenden Kreislaufs aller Rohstoffe. Während Plastik aufgrund von Gewicht und Vielseitigkeit mit der Zeit den Wettlauf gegen Metalle gewonnen hat, fällt auf, dass die vollständige Wiedernutzung aller Metalle in Verbindung mit einer bedeutenden Verbesserung der Leistungsqualität und Liefergeschwindigkeit bei völliger Einstellung auf die Bedürfnisse des Einzelkunden die Voraussetzungen schafft für ein wettbewerbsfähiges und ökologisches Produktions- und Konsumsystem, in dem Metalle wieder eine Rolle oder sogar die Hauptrolle spielen. Während Druckgussverfahren über Jahrtausende und Spritzguss über 150 Jahre gängig waren, könnte in nur einer Generation das Industrielle Zeitalter vom Zeitalter der Intelligenz und Nachhaltigkeit abgelöst werden. Sein Tempo und Erfolg wird abhängen von einer neuen Generation von Unternehmern wie Mario Fleurinck.
Viele bestehende Industrien der Formfertigung, Formtechnik, Maschinenbau, Werkzeugbau und Vernietung werden zu Recht um ihre Zukunft bangen und die sich abzeichnende Wende ablehnen. Dieser technische Durchbruch wird den Arbeitsmarkt stark beeinflussen. DDM bietet Chancen für kreative Entwickler von Industriewerkzeugen, mechanische Innovationen und Fertigungsprozesse. Sie können entscheidend für die Industrie werden und Geschäfte auf ungeahnte Weise umformen. Wenn Melotte bereits die Industrie für Zahnprothesen umkrempeln konnte, können Tausende anderer Industrien sich auf ähnliche Weise umstellen. Anstatt einer Wirtschaft, in der 90 Prozent auf der Müllhalde landen und nur ein kleiner Teil recycelbar ist, entsteht ein neues Muster, in dem nur 10 Prozent nach der Herstellung recycelt werden müssen. Mit höchster Präzision können komplexeste Bauteile erstellt werden, die unserer modernen Gesellschaft Chancen bieten, die man bisher nur theoretisch – oder in der Natur – für möglich hielt.
Bilder: StockXCHNG
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