54. Pilze
Der Markt
Im Jahr 2009 erreichte der Weltmarkt für Chemikalien einen Wert von 1,9 Billionen Euro. Den größten – doch sinkenden - Anteil hiervon hält Europa mit 27,1 Prozent, dicht gefolgt von China mit 22,2 Prozent, das hiermit die NAFTA mit 21,2 Prozent zum ersten Mal übertrifft. Im Vergleich zu 1999 ist der Gesamt-Verkaufswert in einem Jahrzehnt um 60 Prozent gestiegen. Der Europäische Anteil hat im gleichen Zeitraum jedoch 8 Prozent verloren. In Europa wird Polyurethanschaum mit einem Wert von 130 Milliarden Euro produziert; daran beteiligt sind 23 500 Firmen mit insgesamt etwa 800 000 Mitarbeitern. Die PU-Schaum-Industrie in den USA bringt es auf 50,9 Milliarden Dollar und 207 000 Arbeiter. Der chinesische Markt für PU-Schaum wächst pro Jahr um 10 Prozent und wird spätestens 2015 in Führung liegen.
Für PU werden etwa 3000 Chemikalien eingesetzt. Die Produktion von Expansionsschaum, Leichtschaum, extrudiertem Schaum oder Verpackungsschaum basiert auf Zusatzstoffen, von denen viel nie formell durch die Europäische Union genehmigt und individuell registriert wurden und daher nie dieselben strengen Kontrollen durchlaufen haben wie die „neuen“ Chemikalien. Zwar kostet Schätzungen der EU zufolge das Genehmigungsverfahren für eine Chemikalie nur 70 000 Euro, doch die Kosten für die strengen Kontrollmechanismen könnten zusammen bis auf 29 Milliarden Euro steigen, wobei schon ein einziger Giftigkeitstest schon eine Million Euro kosten kann. Während die französische Chemieindustrie berechnet hat, dass die Testverfahren und daraus folgenden Verbote diverser Inhaltsstoffe etwa 360 000 Arbeitsplätze vernichten würde, gab die dänische Regierung eine Analyse in Auftrag, derzufolge die strengen Kontrollen messbare gesundheitliche Erfolge hätten, die sich über die nächsten 30 Jahre mit 90 bis 700 Millionen Euro beziffern ließen.
Die Innovation
Der Markt für PU-Schaum hat viele Vorteile für die Industrie: Leichtes, billiges Material, saubere Auflager, leicht in Form zu schneiden oder zu gießen. Es überrascht nicht, dass dieses Material bei der Verpackung von Elektronik, Kameras und Präzisionswerkzeugen bevorzugt wird. Etwa 90 Prozent des PU-Schaums werden recycelt, vor allem als Teppichunterlage für Wohnungen und Büros. Doch die enthaltenen Zusätze beunruhigen die EU-Behörden, da sie nie getestet wurden und besonders im Langzeitgebrauch – vor allem als recyceltes Material – in hoch isolierten und klimatisierten Gebäuden zur Bildung von Spurenchemikalien mit unbekannter Wirkung auf die Bewohner führen könnte.
Gavin McIntyre war in seiner Jugend Hobby-Pilzforscher und erlangte seinen Abschluss 2007 am Rensselaer Polytechnic Institute, Amerikas ältester Technischer Hochschule in Troy, New York, in Maschinenbau, Produktdesign und Innovation. Zusammen mit seinem Kommilitonen Eben Bayer erforschte er Myzel, das Wurzelsystem von Pilzen. Dieses Fasergeflecht funktioniert wie ein natürlicher Bindestoff, der die verfügbaren Abfallstoffe aus Land- und Forstwirtschaft wie Reisschalen, Kerne, Hüllen von Buchweizen und Baumwolle und sogar nicht recycelbare Fasern, Papier und Kaffeesatz zusammenhält. Die beiden Innovatoren überlegten, wie man Myzel-Schaum als Ersatz von Polystyrol und PU-Schaum für alle möglichen Dinge wie Tassen, Gebäudedämmung und Elektronikverpackung herstellen könnte. Der Ersatz eines chemischen Produkts durch ein biologisches und die wettbewerbsfähige Verwertung reichlich vorhandener Abfälle, die beim Zerfall Methan produzieren, passt genau auf die Ziele der Blue Economy.
Die Idee schien einfach, doch Gavin und Eben mussten einen Weg finden, wie die strapazierfähigen Wurzeln in verschiedenen Formen gezüchtet werden könnten. Es war möglich, das befruchtete Substrat über etwa fünf Tage in einem dunklen Raum zu lagern und danach zu kochen und zu trocknen. Durch dieses simple Verfahren entsteht ein wasser- und feuerfester solider Schaum, der vergraben werden kann und so nach vier Wochen zerfällt. Die Alternativen auf dem Markt sind u.a. Zellulose aus Weizenstroh, Keratin aus Hühnerfedern und Algen, doch der eigentliche Wert dieses Materials liegt in der Verwertung von Abfällen für die Schaffung eines Stoffs, der mit nur einem Zehntel des Energieaufwands in genaue Formen gebracht werden kann. Die Erfinder nahmen ein Darlehen von etwa 4 Millionen Dollar auf und entwickelten schnell Produkte. Gavin und Eben gründeten Ecovative LLC in Green Island, New York. Ihr Verfahren zur Patentierung läuft noch.
Der erste Umsatz
Steelcase, die öffentlich gehandelte Möbelfirma aus Michigan mit etwa 2,3 Milliarden Dollar Umsatz und fast 13 000 Mitarbeitern weltweit, suchte nach einer innovativen Verpackung für ihre Büromöbel-Bausätze. Das Team von Ecovative entwickelte die Schutzverpackung „EcoCradle“ und vermarktete somit ihr erstes Produkt 2010 zusammen mit Steelcase. Das Pilotprojekt lief perfekt und erfüllte alle strengen Auflagen des Möbelriesen, doch die nächste Herausforderung war die Entwicklung einer Massenherstellung. Anstatt eine Serie von Prototypen zu bauen, müssen sie nun Tausende und bald Millionen Einheiten herstellen.
Durch die Medien wurde ein breites Interesse geweckt, in dessen Folge Dell Computers sich entschlossen hat, ab Ende 2012 „EcoCradle“ für den Versand seiner Server zu nutzen. Hierbei kommen Baumwollabfälle als Haupt-Substrat zur Produktion der Schutzverpackung aus Pilzen zum Einsatz. Texas, der Heimatstaat von Dell, hat regelrechte „Baumwoll-Müllberge“ in nur einigen Hundert Meilen Entfernung von der Zentrale des Computerriesen. „EcoCradle“-Kantensteine und Platten sind bereits gegen 0,75 Dollar pro Stück erhältlich, so das der Preis für die Komplettverpackung für den Versand eines Computers bei 6 Dollar liegt. Die Energien zum Meistern der Herausforderungen für die Produktion werden aus den bereits vorliegenden Bestellungen dieser beiden multinationalen Firmen und Preisen, die direkt mit Polystyrol und Polyurethanschaum konkurrieren, gezogen. Ziel ist die Produktion eines Schaums mit gleichmäßiger Dichte (und somit Leistung) ohne Lufteinschlüsse. Da der Ausgangspunkt ein lebender Organismus ist, wird eine strenge Überwachung der Wachstumsbedingungen zum Erreichen eines vorhersagbaren Produktes benötigt. Doch da in der Gewebestruktur jeden Kubik-Zolls „EcoCradle“ eine Gesamtlänge von 8 Meilen winziger Myzel-Fasern enthalten ist, scheint ein vorhersagbares Ergebnis machbar.
Die Chance
Eben und Gavin sehen zahlreiche Möglichkeiten, zum Beispiel biologisch abbaubaren Pilzschaum für Stoßdämpfer, Türen und Armaturenbretter. Gavin glaubt sogar, dass es eines Tages möglich wäre, Autos zu einem Großteil zu kompostieren. Ford Motors ist bereits mit Ecovative in Kontakt und will die Technologie der umweltfreundlichen Alternativen zu erdölbasierten Schäumen weiterentwickeln, da letztere strengen Kontrollen der EU-Chemikalienverordnung unterliegen. Eine weitere, realistischere und kurzfristigere Nische für Innovationen ist der Versand von Weinflaschen, einer der größeren Abnehmer für Polystyrol.
Noch in diesem Jahr plant Ecovative die Einführung von „Greensulate“ auf dem Markt, ein Dämmstoff, der den Energieverbrauch senkt, ohne weitere Feuerschutzmittel zu benötigen. Das getrocknete Mycelium ist von Natur aus feuerfest und als Feuerschutz der Klasse 1 getestet. Es wird geplant, Platten verschiedener Stärke mit den Standardmaßen von 4 x 8 Fuß für Geschäfts- und Wohnbauten herzustellen, die als Isolierung der Grundplatte, des Daches und der Zwischenböden dienen. Da „Greensulate“ nach Bedarf gezüchtet werden kann, könnte es in praktisch jeder benötigten Form und Größe produziert werden.
Das Material ist stabiler als synthetischer Schaum und somit als Baustoff geeignet. So erfüllen die Platten mehrere Funktionen: Dämmung, Stabilisierung, Schimmelschutz, Wasserdichtigkeit und Feuerschutz. Der Abfallstoff ersetzt nicht nur Polyurethan oder Polystyrol, sondern auch viele der Zusatzchemikalien. Eins der Hauptmerkmale der Blue Economy ist die Wettbewerbsfähigkeit der Produkte in Bezug auf Performance und Preis. Selbstverständlich sind keine künstlichen Bindemittel enthalten; somit ist das Produkt völlig frei von Chemikalien und flüchtigen organischen Verbindungen.
Bilder: StockXCHNG
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