55. Atom-Ausstieg

Der Markt

Weltweit generieren 442 Atomkraftanlagen in 30 Ländern zusammen 375 GW Leistung. Zusätzlich werden in 16 Ländern weitere 65 Atomkraftwerke gebaut, die noch einmal 63 GW liefern sollen. China baut derzeit 27 AKWs und Russland 11. Das Land mit den meisten Kernkraftwerken sind die USA mit 104 Anlagen; sie liegen damit weit vor Frankreich (58) und Japan (48 bei Einrechnung der zerstörten Anlage in Fukushima). Ca. 212 Anlagen sind älter als 30 Jahre und es gibt keine verlässlichen Gutachten, die besagen, wie lange diese Atomanlagen noch sicher zu betreiben sind. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel hat hier die Initiative ergriffen und angeordnet, dass alle Anlagen, die älter als 30 Jahre sind, bis auf weiteres aus dem Betrieb genommen werden. In der Europäischen Union arbeiteten 2010 noch 143 Anlagen, zum Höhepunkt des Atomzeitalters 1989 waren es noch 177.

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Bereits vor dem Super-GAU in Fukushima befand sich die Atomenergie auf dem Rückzug. Litauen und Italien sind komplett aus der Kernenergie ausgestiegen, während Finnland bedauert, dass der Bau der 1,6-Gigawatt-Anlage von Frankreich (AREVA) und Deutschland (Siemens) bereits um 5 Jahre verzögert ist und deren Kosten bereits um 70 Prozent überzogen sind. Allein die Verzögerungen bedeuten für die Verbraucher eine jährliche Zusatzlast von 1,3 Milliarden Euro, abgesehen von den gestiegenen Kapitalkosten. Die letzte von Georgia Power georderte Anlage wird auf 17 Milliarden Dollar veranschlagt. Die Investitionskosten pro Kilowattstunde lagen vor dem 11. März 2011 bei geschätzten 7.000 Dollar, doch es ist gut möglich, dass diese Kosten durch zusätzliche Sicherheitsbestimmungen noch auf 10.000 Dollar pro kWh steigen. Berechnungen zufolge können neu gebaute AKWs die Grundstromversorgung mit 5,9 Cent pro kWh sichern. Wenn jedoch sämtliche Subventionen, Abschreibungsvorteile, Versicherungsprämien, finanzielle Unterstützungen sowie Kosten für die Endlagerung eingerechnet werden, ergäben sich bis zu 25 oder sogar 30 Cent pro kWh. Atomenergie genießt nicht nur eine von der Gesellschaft übernommene Haftungsbeschränkung, sondern ist obendrein nicht einmal wettbewerbsfähig.

Daher überrascht es nicht, dass trotz massiver Subventionen und Rechtsschutz im Jahr 2010 die installierte Kapazität in erneuerbaren Energien allein durch Windkraft (193 GW), Müllverbrennung (65 GW), Wasserkraft (80 GW) und Solarenergie (43 GW) die der Kernkraft (375 GW) übertraf; dies alles noch bevor die Trilogie der Katastrophen in Japan bewies, dass das Unmögliche passieren kann. Da nun die Küsten des Pazifischen und Indischen Ozeans nicht mehr für neue Atomkraftprojekte in Betracht kommen, bleibt die Frage, wie die Welt in Zukunft erneuerbare und bezahlbare Energie erzeugen will?

Die Innovation

Das Prinzip der Blue Economy ist, das zu nutzen, was uns zur Verfügung steht und die Wettbewerbsfähigkeit jeder Innovation ohne Subventionen zu berechnen. Subventionen sind letztendlich nicht relevant, der Schlüssel zum Erfolg ist die Feuerprobe: Erneuerbare Energielösungen müssen erschwinglich sein. Über die letzten Monate habe ich über die Blue Economy-Serie ein Portfolio von Technologien vorgestellt. Diese Durchbrüche fanden keine große Beachtung, was wahrscheinlich daran liegt, dass sie komplexe technische Kenntnisse voraussetzen. Wenn sie jedoch in Clustern kombiniert werden, kann diese Handvoll Energie- und Wärmequellen das gesamte Szenario der erneuerbaren Energien umkrempeln und stärken. Die drei Innovationen sind: a) Vertikal-Windturbinen, die im Innern von Hoch-spannungsmasten installiert werden (Beispiel 11), b) Umbau der bestehenden städtischen Kläranlagen, um Wasserklärung mit der organischen Abfallentsorgung zu kombinieren und so Biogas zu produzieren (Beispiel 51) sowie c) die kombinierte Strom- und Wärme-gewinnung durch doppelseitige Photovoltaik-Paneele in recycelten Behältern, die dem Licht folgen, ohne bewegliche Teile zu benötigen (Beispiel 53).

Wenn wir ernsthaft bestrebt sind, auf erneuerbare Energien umzusteigen, die keine unberechenbaren Risiken wie die Atomkraft bergen, dann müssen wir über den bestehenden Mix aus Sonnen- Wind- und Abfallenergie hinaus gehen. Während die oben genannten vier Energiequellen den erneuerbaren Sektor über die letzten drei Jahrzehnte anführten, müssen wir zusätzliche Möglichkeiten nutzen, die nahe liegen und billiger sind. Hier kommen die kreativen Lösungen der Nutzung bestehender Anlagen wie Klärwerken und Hochspannungsmasten ins Spiel.

Sehen wir uns gemeinsam einmal die Zahlen an. Wenn in Deutschland 500 der 9.600 Kläranlagen ergänzend mit hocheffizienten Biogas-Generatoren ausgestattet würden, basierend auf der Technik von Scandinavian Biogas, die sich in Ulsan, Südkorea, bereits bewährt hat, dann könnten mit geschätzten Gesamt-Investitionskosten von 10 Milliarden Euro ganze 5 GW Strom zur Grundstromversorgung erzeugt werden. Der Kapitalaufwand hierfür liegt etwa bei einem Fünftel dessen, was für Atomkraft aufgebracht werden muss, und die Zeit ab der Entscheidung bis zum Anschluss ans Stromnetz liegt bei nur 2 anstatt 10 Jahren, also ebenfalls einem Fünftel – somit ist ein viel besserer Cashflow gesichert. Biogas ist eine sichere und vorhersagbare Energiequelle – zweifellos stehen organische Abfälle und Abwasser ständig zur Verfügung –, somit bildet dies ein Rückgrat für die Energielieferung das das Netz stabilisiert.

Wenn in Deutschland zusätzlich ein Drittel der 150.000 Hochspannungsmasten mit Vertikalturbinen von Wind-It (aus Frankreich) ausgestattet würden, könnten so wiederum bis zu 5 GW Strom erzeugt werden, und dies bei einem Zehntel der Kosten für Atomenergie, d.h. insgesamt 5 Milliarden Euro.

In Deutschland gibt es 1.900 Mülldeponien. Wenn nur 20 Hektar auf 200 bereits aus dem Betrieb genommenen Grundflächen auf Müllhalden mit den kombinierten Wärme- und Stromgeneratoren von Solarus bedeckt würden, die pro Hektar mit 2.000 Einheiten (100 Reihen zu je 20) die Menge von 1.830 kW und 1.360 kWe erzeugen, dann kämen noch einmal 5,4 GWe und 7,32 GW hinzu. Die Wärme könnte genutzt werden, um die größte Ursache für Stromverbrauch in Haushalten zu reduzieren: zur Wassererhitzung. Bei einer Lebensdauer dieser Paneele von über 20 Jahren lägen die Kosten pro Kilowattstunde bei unter einem Cent!

Der erste Umsatz

Der tägliche Bedarf an Strom liegt in Deutschland bei etwa 70 GW (mit Leistungsspitzen von 80 GW). Hiervon werden 20 Prozent bzw. etwa 15 GW durch Atomkraftwerke erzeugt. Die oben angeführten Berechnungen zeigen, dass allein durch die Nutzung eines kleinen Teils des Potentials der bestehenden Infrastruktur die Gesamtmenge der Atomkraftwerke ersetzt werden kann (5+5+5,4 GW).

Expertenberechnungen kommen zu dem Ergebnis, dass die Produktionskosten für diese drei Energiequellen bei 2 Cent oder noch weniger pro kWh liegen. Die derzeitigen Transferkosten in Deutschland für Atomstrom im Netz liegen bei 5,6 Cent pro kWh. Bei derart niedrigen Kosten stellt die Finanzierung kein Problem dar; zudem können die Systeme so schnell installiert werden, dass bereits in den nächsten 3-5 Jahren der Atom-Ausstieg machbar ist, sofern sich die für Mülldeponien und Klärwerke zuständigen Entscheider vor Ort beteiligen. Sämtliche Gewerkschaften stehen hinter dem Konzept.

Die Chance

Ein offensichtlicher weiterer Vorteil ist die Schaffung von Arbeitsplätzen. Die drei vorgestellten Technologien sind nur ein kleiner Teil der breiten Palette von möglichen bahnbrechenden Neuerungen. Stellen Sie sich vor, alle Bahn- und Autobahntrassen würden mit Wind-It-Technologie ausgestattet? Alle größeren Kläranlagen der industriellen Lebensmittelhersteller würden Biogas produzieren? Die Hälfte aller deutschen Haushalte ersetzte elektrische Durchlauferhitzer durch Thermosyphone mit Beleuchtung, die 15 Prozent des Stromverbrauchs einsparten? Deutschland ist bereits einer der Marktführer im Export grüner Technologien; nun könnte das Land sogar als weltgrößter Exporteur grüner Energie seine Position in den Sektoren der Metallverarbeitung, Maschinenbau und erneuerbaren Energien stärken, die von einem dichten Netz von mittelständischen Betrieben getragen werden. Wichtigster Punkt für diese Art des Atomausstiegs ist jedoch die Preisdifferenz zwischen 2 und 5,6 Cent pro kWh (also 3,6 Cent pro kWh) für die zu ersetzenden 15 GW Atomstrom, die pro Jahr etwa 4,7 Milliarden Euro an Einsparungen generieren. Dieser Cashflow dank der Effizienz des Systems, das auf intelligente Weise die bestehende Infrastruktur durch simple Technologien nutzt, könnte ausreichen, um den Atomausstieg sowie den weiteren Kapitalbedarf über die nächsten 10 Jahre zu finanzieren.

Da es nun scheint, als ob das Geld zur Verfügung steht, könnte hier ein Konsens entstehen, der den Energiekonzernen und Gemeinden mit hohen Investitionen in die Atomenergie nun einen Ausstieg auf Grundlage des heutigen Marktwertes ihrer Anlagen ermöglicht – und sogar vorab den Atomausstieg bezahlen würde. Da sie durch die angeordnete Abschaltung der ältesten Anlagen bereits 20-25 Prozent an Wert verloren haben und durch die derzeitige Unsicherheit der Abwärtstrend sich wahrscheinlich fortsetzt (TEPCO, der Eigner der Atomanlage in Fukushima, hat bereits 75 Prozent seines Börsenwerts verloren), wäre es für Finanzexperten ein Leichtes, ein Lösungspaket zu erarbeiten, das den Atom-Ausstieg durch eine Win-Win-Strategie ermöglicht, in der die Vorteile für alle erweitert, Risiken vermindert und marktreife Innovationen unterstützt werden.

Am Ende einer solchen Entwicklung könnte Deutschland sogar zum Finanzzentrum der Welt werden, indem der Atom-Ausstieg auf Grundlage von Konsens und Cashflow finanziert wird. Dies ist das oberste Ziel der Blue Economy: die Grundbedürfnisse aller durch vorhandene Ressourcen befriedigen, die nötigen Produkte und Dienstleistungen zu bieten, die bei niedrigeren Kosten gut für die Gesundheit und die Umwelt sind, und gleichzeitig Sozialkapital aufzubauen. Es scheint, wir erkennen gerade, wie all dies erreicht werden kann – schneller als wir je gedacht hätten!

Bilder: StockXCHNG

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