62. Würmer
Der Markt
Chlor ist eins der am weitesten verbreiteten Elemente der Biosphäre und stellt etwa 2 Prozent der Masse des Meerwassers. Weltweit werden etwa 50 Millionen Tonnen produziert, die 2010 schätzungsweise 30 Milliarden Dollar an Umsätzen generierten. Etwa 2,5 Millionen Tonnen, mit einem Wert von knapp 1,5 Milliarden Dollar, werden zur Desinfektion von Wasser genutzt. Über 70 Prozent aller Kläranlagen in Nordamerika, Europa und Japan setzen Chlor in ihren Prozessen ein. Diese drei Märkte machen zwei Drittel des Chlorverbrauchs zur Wasserklärung auf der Welt aus. Sie sind jedoch reif und wachsen erwartungsgemäß nicht weiter. Auf dem Rest der Welt steigt der Chlorverbrauch um jährlich 9 Prozent an.
Mit einem Investmentbudget von ca. 450 Milliarden US-Dollar hat sich die Weltbank zu einer zehnjährigen Trinkwasserkampagne verpflichtet, mit dem Ziel, mindestens die Hälfte der 1,1 Milliarden Weltbürger mit öffentlichem Trinkwasser zu versorgen, denen bisher keines zur Verfügung steht. China ist der größte Investor in Kläranlagen und tendiert zu großformatigen Anlagen. Indien hat einen anderen Weg gewählt und bevorzugt kleinformatige Klärwerke. Schätzungsweise 20 000 Firmen bieten auf diesem Sektor weltweit ihre Dienste an, und ihre Wachstumsperspektiven sind enorm. Nur 14 Prozent des Abwassers auf der Welt werden geklärt, in Südamerika und Afrika sind es lediglich 2 Prozent. Die Kosten für Chlorchemikalien belaufen sich durchschnittlich auf 100 US-Dollar pro Kubikmeter Trinkwasser. Siemens ist der größte Lieferant für Chlorgas- Desinfektionssysteme.
Die Innovation
Chlor ist das billigste Mittel im ersten Desinfektionsschritt, dass heutzutage auf dem Markt verfügbar ist. Es ist unbegrenzt haltbar und ständig verfügbar. Jedoch ist es auch giftig. Bei einer Konzentration von über 4 ppm werden die Lungen geschädigt, und auch wenn Transport und Anwendung streng reguliert sind, passieren Unfälle. Leider ist Chlor auch nicht wirksam gegen Giardia (ein Parasit, der Darminfekte verursacht) und Cryptosporidium (ein mikroskopisch kleiner Parasit, der Durchfall verursacht). Dies sind heutzutage die am weitesten verbreiteten Ursachen für durch Wasser übertragene Krankheiten in Nordamerika. Neuere Studien haben bewiesen, das Chlor zwei Nebenprodukte generiert (THM und HAA), die bekanntermaßen Krebs verursachen. Zwar werden Ozon- und Ultraviolettfilter zur Minderung des Gesundheitsrisikos ergänzend eingesetzt, doch diese sind erheblich teurer als Chlor und somit unerschwinglich für Millionen kleiner Kläranlagen, die in naher Zukunft gebaut werden müssen.
Matías Sjögren Raab ist diplomierter Wirtschaftsingenieur der Katholischen Universität von Chile in Santiago und ergänzte seine wissenschaftliche Ausbildung um einen MBA an derselben Institution. Seine Nähe zu Projekten der Agrarindustrie brachten ihn in Kontakt mit Regenwürmern. So wie Tom Szaky durch dieses Tier für seine Firma TerraCycle inspiriert wurde (siehe Beispiel 52), bemerkte Matías, dass er vor einer Innovation stand, das ihm einen Ausweg aus der klassischen Kostenfalle der öffentlichen Anlagen brachte. Entsprechende Forschungen brachten ihn zu dem Schluss, dass ein Biofilter aus Regenwürmern ideal zur Entwicklung kleinformatiger Wasserkläranlagen wäre. So könnte er nicht nur ohne Chlor, Aktivkohle und Flockungsmittel auskommen, sondern auch noch zusätzliche Einnahmequellen schaffen. Dies ist eins der Kernprinzipien der Blue Economy.
Matías gründete daraufhin die Firma Biofiltro Ltda., einen chilenischen Lieferanten für Kläranlagen. Er testete belüftete Wasserklärsysteme auf Basis von Wurmfiltern, die das Wasser reinigen, ohne jeglichen Klärschlamm zu produzieren. Besser noch, der in traditionellen Anlagen anfallende Bioschlamm kann vor Ort weiterverarbeitet werden. Da die Herstellung von Biogas aus Klärschlamm nur in großem Maßstab marktfähig ist, positioniert sich der Biofilter auf Regenwurmbasis als ideale alternative für kleine Anlagen, die weltweit den größten Teil der Nachfrage stellen. Die Firma erhielt 2011 den Preis als grünes Start-Up-Unternehmen des Jahres, den die Fundación Chile zusammen mit UDD Ventures ausgelobt hatte, der Venture Capital-Tochter der privaten Universidad del Desarrollo.
Der erste Umsatz
Haupt-Wettbewerbsgegner des Biofilters ist Belebtschlamm – dieser stellt etwa 95 Prozent des Markts. Die ersten beiden Projekte in marktfähigem Maßstab bestätigten jedoch, dass die Investitionskosten um 30 Prozent niedriger liegen. Noch wichtiger ist, dass die Betriebskosten um 70 Prozent gesenkt werden können, da die Stromkosten um 66% niedriger ausfallen. Schließlich benötigt jeder Kubikmeter Polymere und Flockungsmittel, doch der Biofilter kommt ganz ohne diese Zusätze aus. Außerdem produziert jede herkömmliche Kläranlage 500 Gramm Klärschlamm pro Kubikmeter, doch in diesem System fällt nichts an. Das System spart Arbeitskräfte ein, indem es etwa 15 000 Regenwürmer pro Kubikmeter rund um die Uhr an 7 Tagen der Woche beschäftigt.
Ein zusätzlicher Vorteil ist, dass jeder Kubikmeter geklärten Wassers 60 Gramm Humus generiert, ein Nebenprodukt, das sich hoher Nachfrage erfreut. In China wurden Regenwürmer medizinisch eingesetzt und mehrere Studien bestätigen ihre Wirksamkeit als Stärkung für das Immunsystem für Patienten, die sich einer Chemotherapie unterziehen mussten oder mit AIDS infiziert sind. Die Verbindung von Kostensenkung auf der einen Seite und Umsatzsteigerung auf der anderen setzt neue Spielregeln. All dies bedeutet für die simple Biofilter-Technologie ein starkes Marktpotenzial.
Der Chance
Der Markt für Kläranlagen im kleinen Maßstab wächst explosionsartig. Da immer mehr Trinkwasser benötigt wird, ist eine der offensichtlichen Hauptquellen hierfür das Abwasser. In Chile, einem Land, in dem 85% des städtischen Wassers bereits geklärt werden, beläuft sich der Markt für Klärsysteme immer noch auf 450 Millionen US-Dollar. Der Markt für die Klärung von Industrieabwasser überschreitet die 1,5 Milliarden und wird noch angetrieben durch neue Regulierungen für Weinkellereien und Lachsfabriken. Der Bergbausektor ist ein weiterer Kandidat für Kläranlagen mit Regenwurm-Biofiltern. Dank der Vielseitigkeit der Regenwürmer, die sich schnell an unterschiedliche Abfallströme und Giftigkeitsgrade anpassen, die jede Industrie mit sich bringt, kann die Performance der Anlage ohne Genmanipulation oder chemische Zusätze garantiert werden.
Aristoteles nannte Regenwürmer einmal die Gedärme der Erde. Nun scheint es, dass diese Tiere, bei denen die meisten Menschen nicht einmal den Kopf vom Schwanz unterscheiden können, als Wasserquelle der Erde gelten können. Zwar ist diese Art von Anlage nicht für großformatige Klärwerke geeignet, da diese auf den Prinzipien der Massenproduktion beruhen, doch in kleinem Maßstab bietet sich hier eine ideale Chance für Unternehmensgründer. Matías expandiert bereits in ganz Lateinamerika und baut gerade eine erste Anlage in Indien – wir hoffen, dass noch viele weitere folgen.
Bilder: StockXCHNG
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