77 Algen

Der Markt

Im Jahr 2010 wurden weltweit Naturfasern pflanzlichen und tierischen Ursprungs im Wert von 50 Milliarden US-Dollar hergestellt, entsprechend 35 Millionen Tonnen, von denen 23 Millionen für Textilien und Kleidung verwendet wurden. Die restlichen 12 Millionen Tonnen wurden in einer Reihe von Industrie- und Konsumgütern eingesetzt wie Verstärkungen für Thermoplastik-Platten in europäischen Autos, Verbundplatten mit Kokosfaser in der indischen Bauindustrie, die resistenter als Teakholz sind, Sisal für Dächer in Brasilien sowie Hanf, der 2008 zu den Olympischen Spielen in China dem Zement beigemischt wurde. Der Weltmarkt für Naturfasern Baustoffen der Automobil-, Bau-, Sport- und Freizeitindustrie wurde 2010 mit 2,1 Milliarden Dollar bewertet und es wird erwartet, dass dieser Wert sich bis 2015 verdoppelt. Fahrzeuge von BMW enthalten bis zu 24 Kilogramm Flachs und Sisal, die in Verbundmaterialien für Innenverkleidungen und Armaturenbrettern verarbeitet wurden. Die Mercedes Benz A-Klasse nutzt Naturmaterialien im Unterbau, nicht nur weil sie natürlich sind, sondern vielmehr aufgrund ihrer hohen Performance und Haltbarkeit im Verhältnis zum Gewicht.

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Die weltweit am weitesten verbreitete Naturfaser ist Baumwolle mit jährlich 25 Millionen Tonnen. Die drei größten Baumwollproduzenten sind China (32%), Indien (22%) und die USA (12%). Baumwolle befindet sich jedoch auf dem Rückzug, vor allem in den USA, wo die Anbauflächen für diese Faser in nur einem Jahr um 30 Prozent auf knapp über 3 Millionen Hektar reduziert wurden, so wenig wie zuletzt 1983. Bisher lag der Hauptgrund für diesen Abwärtstrend im zunehmenden Ersatz durch synthetische Fasern, doch inzwischen beruht die Tendenz auf dem Wunsch Chinas, auf den bisher für Baumwolle genutzten Landflächen Nahrungsmittel anzubauen. China will auf breiter Ebene den wasserintensiven Baumwollanbau durch Nahrungsmittelanbau ersetzen. Die Baumwolle ersetzen sie wiederum durch Industriehanf. Zuchthanf wird somit innerhalb weniger Jahre von bescheidenen 20 000 Ha bis auf vielleicht 1,3 Millionen Ha expandieren. Hanf gedeiht gut auf hügeligen und weniger fruchtbaren Böden ohne Bewässerung und wirkt der Erosion entgegen; er dient somit dem Ökosystem. Die zweitwichtigste Naturfaser der Welt ist Jute mit 2,9 Millionen Tonnen, die vor allem in Indien angebaut wird und höhere Preise erzielt als Baumwolle (bis zu 400 Dollar pro Tonne), da sie vor allem als Ersatz für Plastik-Verpackungen eingesetzt und ihr Preis daher vom Ölpreis mitbestimmt wird.

Die Innovation

Naturfasern sind beliebt und werden überall mehr und mehr nachgefragt. Eine stärkere industrielle Nutzung ist aufgrund von Qualitätsschwankungen und schlechter Feuerfestigkeit (außer bei Wolle) sowie ihrer geringen Festigkeit nur begrenzt möglich. Andererseits werden die Formfestigkeit sowie die Eigenschaft zu brechen, ohne scharfe oder gefährliche Kanten zu bilden, auch als Vorteile gesehen. Eine der größten Herausforderungen bleibt jedoch, dass die meisten Pflanzenfasern mit der Nahrungsmittelproduktion um Anbaugebiete konkurrieren. Es gibt Versuche, beispielsweise Wasserhyazinthen in stabile Fasern für Möbel und Accessoires zu verarbeiten. Diese invasive Spezies verstopft Flüsse und Dämme in Afrika und Asien und ernährt sich von den Nährstoffen, die durch Bodenerosion und übermäßige Düngung in die Flüsse gelangen. Abgesehen von einigen kleinen Neuerungen für diese Wasserpflanze in Thailand und Bangladesh werden weitere natürlich vorkommende und reich verfügbare Faserressourcen gesucht, aus denen hochwertige Produkte hergestellt werden können, ohne die Ernährungssicherung zu gefährden.

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Ji Yujun war Vorsitzender des 7., 8., 9. und 10. Nationalen Volkskongresses von China, doch im Herzen ist er Unternehmer. Als Parteifunktionär war er stets um das Wirtschaftswachstum im Einklang mit der Sicherung des gesellschaftlichen Wohlstands bemüht. Seine Karriere begann 1980 als Direktor einer Handtuchfabrik, die außerstande war, die Qualitätsansprüche zu erfüllen. Dies war zu Zeiten der Planwirtschaft, während der Baumwolle nur unregelmäßig und nicht auf Bestellung lieferbar war. Unter der Leitung von Ji Yujun verbesserte sich die Qualität, somit stieg auch die Produktionsmenge dank des Imports neuerer Verarbeitungsmaschinen aus Japan und Deutschland. Ji begann dann, die Handtuchfabrik mit den staatlichen und städtischen Betrieben unter der Marke Xi Ying Men zu vereinen. Diese ging 2005 als führende Marke der chinesischen Textilindustrie hervor. Während sich die Produktion konsolidierte, beschloss er, in die Forschung zu investieren, um verschiedene Rohstofflieferströme zu erschließen.

Ji Yujun und sein Team ließen sich davon inspirieren, dass jedes Jahr im Juni und Juli an der Küste von Qingdao grüne Algen auftreten, die große Mengen Sauerstoff verbrauchen und so das Leben im Meer sowie die Fischerei bedrohen. Im Jahr 2007 brachte eine Algenpest in Taihu, Chinas drittgrößtem Süßwassersee, die Wasserversorgung für eine Million Menschen in Wuxi in der Provinz Jiangsu für etwa zehn Tage zum Erliegen. Bevor die Segelwettkämpfe der Olympischen Spiele 2008 in Qingdao beginnen konnten, entfernten Freiwillige und die Armee fast eine Million Tonnen Algen aus dem Meer. Da das Algenwachstum oft Chinas Wasserwege blockiert und das Ökosystem im Meer sowie die Fischerei bedroht, wurde eine gemeinsame Forschungsinitiative mit dem nationalen Labor für Neue Materialien der Universität Qingdao bewilligt, um das Potential der Algen als Faserlieferant zu untersuchen.

Der erste Umsatz

Anfangs waren die Algen empfindlich und nur verwendbar für medizinische Stoffe wie Binden oder in der Chirurgie. Später gelang es dem Team, einen neuen Extraktionsprozess für Rohfasern aus Seetang zu optimieren. Da diese Fasern stärker und stabiler als Baumwolle waren, untersuchte das Forschungsteam die Extraktion von hochfesten Algenfasern aus einer Vielzahl verschiedener Grün- Braun- und Rotalgen. Dabei fanden sie heraus, dass die neuen Fasern feuersicher und unempfindlich gegen elektromagnetische Wellen waren. Somit liefern die Fasern auf Algenbasis einen einzigartigen Rohstoff für spezielle Kleidung wie feuerfeste Anzüge, Klinikuniformen sowie Schutzkleidung für militärische Zwecke.

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Der neu entwickelte Extraktionsprozess für Algen ermöglicht die Gewinnung von 200-250 kg Rohfaser pro Tonne getrockneter Algen. Die Produktionskosten für Algenfasern schwanken zwischen 8000 und 10 000 Dollar pro Tonne. Da China der weltgrößte Algenproduzent ist und etwa die Hälfte der einfachen Produktionsmenge stellt, besitzt es Rohstoffe zur Algenfaserproduktion im Überfluss. Dies bedeutet, dass die minderwertigen Algen zu hohen Preisen verkauft werden können. Noch besser ist, dass die Beseitigung des Algenwachstums Arbeitsplätze und hochwertige Produkte mit sicherem Marktwert schafft. Die Reaktion der Kunden auf erste Versuche bewegten Ji Yujun dazu, eine Anlage zur Faserherstellung mit einer Kapazität von 1000 Tonnen zu bauen, die 2011 in Betrieb genommen wurde.

Die Chance

Die ersten Verkäufe von Textilprodukten auf Algenbasis sind von den Kunden auf breiter Ebene positiv aufgenommen worden, da weithin bekannt ist, dass Algenextrakte die Hautgesundheit fördern und erhalten. Die Vorkommen an Algen in China können eine Produktion von 1,9 Millionen Tonnen des erneuerbaren Rohstoffs Algenfaser ermöglichen. So könnten Algenfasern aus dem Nichts als drittwichtigste natürliche Faser den Markt durchdringen. Dies würde bedeuten, dass China (und die Welt) ihre Abhängigkeit von der Pestizidabhängigen und wasserintensiven Baumwolle weiter vermindern könnten, ohne weitere Ackerbauflächen zu beanspruchen. Inzwischen gibt es nicht nur Stoffe für Bandagen und Spezialbekleidung aus Algenfasern, sondern auch schon Modewaren.

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Es entstehen neue Modemarken wie „Twosquaremeter“ in Deutschland, eine Startup-Firma, die Textilien auf Algenbasis vertreibt, die nachweislich die Regeneration der Haut fördern und sie pflegen. Ein Rock oder Kleid kostet zwischen 100 und 250 Euro; dies ist zwar ein Vielfaches der Preise von Zara oder H&M, doch nur ein Bruchteil anderer berühmter Marken. So erobern Textilien auf Algenbasis eine Nische in der Bekleidung; sie ist gesund für ihren Träger und für die Natur, aus der sie auf nachhaltige Weise gewonnen wird. Wenn die Algenblütezeit in die Produktion einbezogen wird, findet sich hier eine beispielhafte Umsetzung des Konzepts der Blue Economy. Die Beseitigung der Algen kostet Geld, doch diese Ressource aus Salz- oder Süßwasser bringt Erträge, geht auf bestehende Nachfrage am Markt ein und schafft Arbeitsplätze sowie entscheidende Verbesserung gegenüber der Entsorgung dieser fruchtbaren Biomasse auf Deponien, wo sie verrottet und Methangas abgibt.

Das Potenzial der Seetangfasern hat bereits Wettbewerber auf den Plan gerufen. Die Qingdao Xi Ying Men-Gruppe hat zwar die weltweit größte Produktionsanlage, doch es gibt Konkurrenten wie die New Fibers Textile Corporation aus Taiwan, die eine kombinierte Faser aus Zellulose und Seetang herstellt, beides erneuerbare Ressourcen. Der deutsche Chemiekonzern Zimmer AG hat ähnliche Fasern erfunden, den Betrieb jedoch an die Smart Fiber AG verkauft, die inzwischen eine Produktionskapazität von jährlich 500 Tonnen in Rudolstadt hat und Algen aus der Nordsee verarbeitet, die sie an die Fabrik Lenzing in Österreich liefert, einer führenden Firma für Zellulosefasern. Das Team von Smart Fiber stellt antibakterielle, geruchsmindernde, hautfreundliche, wärmeregulierende, stromleitende sowie chemisch und thermisch resistente Fasern her. Hier beginnt der Markt der therapeutischen und Funktionskleidung und es öffnet sich ein weites Feld für Unternehmensgründer weltweit.

Bilder: Stock.XCHNG

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