82 Essbare Wälder

Dieser Artikel stellt essbare Wälder vor, eine von 100 Innovationen im Rahmen von „The Blue Economy”. Dies ist Teil einer breit angelegten Bewegung für mehr Unternehmertum, Wettbewerb und Arbeitsplätze.

 

Der Markt

Der Bericht über den Kohlenstoffmarkt der Weltbank „World Bank’s State and Trends of the Carbon Market Report“ stellt für 2010 einen Wert von 142 Milliarden Dollar für Kohlenstoffrechte auf, das ist etwas weniger als die 144 Milliarden Dollar von 2009. Nur ein kleiner Bruchteil der Projekte zur Kohlenstoffbindung wird für Aufforstung, Wiederaufforstung oder nachhaltige Landwirtschaftsprojekte verwendet. Der BioCarbon Fund der Weltbank hat seit 2004 insgesamt 91,9 Milliarden Dollar in Aufforstungsinitiativen investiert, womit 8,6 Millionen Tonnen Kohlenstoffemissionen reduziert wurden, von Brachflächen, die wiederhergestellt werden sollen, bis hin zu neu angepflanzten Wäldern zur Treibstoff- und Brennholzproduktion. Da die Kohlenstoffrechnung erst aufgeht, wenn die Bäume gewachsen sind und tatsächlich CO2 binden, bedeutet dies Investitionen mit langem Vorlauf, die somit wenig beliebt sind.

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Wenig mehr als vier Milliarden Hektar der Welt bzw. 31% der gesamten Landfläche der Welt sind von Wäldern bedeckt. Nur ein Drittel hiervon sind Primärwälder, da seit 2000 eine Fläche von 40 Millionen Hektar zerstört wurde. Vor einem halben Jahrhundert war der Waldbestand noch doppelt so groß. Als einzige Region hat Asien einen Netto-Zugewinn von jährlich 2,2 Millionen Hektar im letzten Jahrzehnt zu verzeichnen, während in Südamerika und Afrika jährlich 4 beziehungsweise 3,4 Millionen Hektar verloren gingen. Somit betrug der Gesamtverlust von 2000 bis 2010 etwa 5,2 Millionen Hektar. Israel und Bhutan sind die einzigen Länder, die im neuen Jahrtausend mehr Bäume besitzen als zuvor. Bhutan schützt 60% seines gesamten Waldbestands durch eine neue Verfassungsgebung. Israel wiederum hat 240 Millionen Bäume gepflanzt, um 250 000 neue Siedler anzuwerben. Dies bedeutet, dass für jeden Siedler 1000 neue Bäume gepflanzt wurden.

Die Innovation

Das Problem bei Wiederaufforstungsprojekten liegt darin, dass diese nur ein Ziel verfolgen: Holz als Treib- oder Brennstoff und inzwischen auch zum CO2-Abbau. Der Fokus auf ein einziges Produkt treibt Firmen dazu, die Produktion kurzfristig voranzutreiben und verleitet sie dazu, dabei auf genetisch modifizierte Arten zurückzugreifen. Als Reaktion auf das wachsende Bewusstsein, dass Baumpflanzungen in Monokultur Land und Boden noch weiter schädigen, haben mehrere Organisationen Zertifikate für nachhaltige Forstwirtschaft entwickelt. Diese Zertifikate mindern zwar die aggressive Belastung der Areale, doch sie schaffen keinen Mehrwert wie z. B. Nahrung. Es scheint, heutzutage kann man entweder einen Wald haben und an den Bäumen verdienen (Holz) oder den Wald absägen, das Holz verkaufen und auf dem Land Ackerbau treiben. Gibt es keinen Ausweg aus der Zwickmühle?

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Javier Herrero ist auf der Baleareninsel Mallorca aufgewachsen und strebte immer danach, seine Leidenschaft für die Natur mit der Bildung zu verbinden. Er möchte, dass Kinder ihr angeborenes menschliches Potenzial im Kontakt mit der Umwelt entwickeln. So entwarf er ein Bildungssystem rund um Initiativen, die die Kinder selbst ins Leben rufen. Die Arbeiten von Fritjof Capra und das Konzept der „ökologischen Alphabetisierung“ inspirierten ihn. Er beschloss, an der Schaffung einer Pädagogik mitzuwirken, für die das beste Lernumfeld der Wald ist. Wälder jedoch sind immer ein Kostenfaktor und ein produktiver Wald, in dem sich Investitionen auszahlen, erfordert Pflege in einem zumindest teilweise urbanen Umfeld. Daher entschied er sich, die bestehenden Modelle von Gärten zu überdenken, die auf jährlichen Anpflanzungs- und Erntezyklen basieren, um einen ganzjährig essbaren Wald zu konzipieren, in dem man etwas über die Natur und den Nahrungsmittelanbau lernt und gleichzeitig am produktiven Prozess des Ökosystems teil hat. So überbrückt er den Gegensatz von Wald und Farm, um sicherzustellen, dass es nicht nur um die Ernte geht, sondern um die Verbesserung der Fähigkeit des Landes, sich selbst zu regenerieren, sowohl bezüglich der Nahrung als auch des Waldes.

Javier experimentierte 15 Jahre lang in verschiedenen Umgebungen und schloss, dass zu Hause, sogar auf dem Balkon oder auf einer innerstädtischen Brachfläche, ein Mini-Wald angepflanzt werden kann. Wenn es wirklich zu eng wird, sieht er nach althergebrachter Weise das Problem als Herausforderung und beginnt mit der vertikalen Anpflanzung. Dabei bedeckt er eine ganze Mauer und schafft so nicht nur Nahrungsmittel, sondern auch Schönheit. Javier erkannte, dass die Zeit eine große Rolle spielt. Die Anpflanzung eines essbaren Waldes erfordert Geduld. Allein die Vorbereitung kann ein Jahr dauern, manchmal auch zwei, da ein kleiner Wald zu Hause ganz anders funktioniert als die Entwicklung auf einem Landstück von zwei Hektar. Bis die erste Ernte eingebracht werden kann, vergehen leicht fünf Jahre. Nach 15 Jahren ist der Wald reif und kann, wenn er gut umsorgt wird, ständig Früchte und Nüsse liefern. Javier schuf einige Simulationen und schloss daraus, dass, wenn jede Familie und jede Schule der Welt einen essbaren Wald auf verfügbaren Flächen und Räumen anpflanzte, die CO2-Konzentration auf das Niveau vor der Industrialisierung gesenkt werden könnte. Javier glaubt sogar, dass dies die Menschheit vor dem permanenten Risiko der Hungersnöte bewahren und für alle genug Nahrung bieten könnte.

Der erste Umsatz

Javier bekam die Chance, seine Konzepte im Ökologiepark Urobia in der Stadt Orba zwischen Alicante und Valencia (Spanien) zu beweisen. Sorgfältig wählte er 700 Arten aus, von Früchten über Holz, medizinische und aromatische Pflanzen und Kräuter bis hin zu Büschen. Ein Regenwasserauffangsystem leitet 450 000 Liter Süßwasser pro Jahr in und rund um den frisch gepflanzten Wald und liefert mehr als ein handelsübliches Bewässerungssystem es jemals schaffen könnte. Einmal erbaut liefern die Leitungen reichlich Wasser durch Schwerkraft in einer Region, in der lange Sommer mit Hitzewellen und Regenarmut die Regel sind.

Dank der reichlichen Verfügbarkeit von Wasser kamen Tiere und Vögel in die Region zurück. In Zusammenarbeit mit der Universität von Valencia legen Javier und sein Team inzwischen Quoten für die Erholung der Artenvielfalt fest. Während Javier die Bäume anpflanzte, schuf er ein System, in dem weitere Samen durch Vögel und Bienen dazukamen – ganz ohne Mehrkosten. Ein System, dass mehrerlei Erträge aus einem Wald gewinnt, als Lernmittel dient, aus Wasserknappheit Überfluss schafft, die Artenvielfalt regeneriert und dabei kostenfrei für immer funktionieren kann, ist ein wunderbares Beispiel für die Blue Economy.

Die Chance

In den letzten Jahrzehnten wurden Turnhallen für Schulen zum Standard. Das stundenlange Stillsitzen beeinträchtigte Körper und Geist der Kinder. Die Sporthalle wurde zum zentralen Bestandteil der Schulbauten. Nun ist es Zeit, einen zweiten unverzichtbaren Bestandteil in die Bildungsinfrastruktur aufzunehmen: Zugang zu einem essbaren Wald. Da Kinder entweder unterernährt sind und Hunger leiden, oder eben überernährt und fettleibig sind, müssen Eltern und Lehrer eine Lernplattform schaffen, durch die Kinder lernen, wie Früchte und Nüsse durch Licht und Wasser an den Bäumen wachsen. Im Wald gibt es mehrere Ebenen der Nahrungsmittelproduktion, vom Boden mit Wurzeln, Unterholz mit Pilzen und Beeren bis hin zu den Baumkronen, in denen die Früchte hängen. So können Kinder ihre Zukunft selbst in die Hand nehmen.

In einem Land wie Südafrika, in dem es doppelt so viele Kirchen wie Schulen gibt, sollten alle angeregt werden, sich zusammenzutun und sicherzustellen, dass die hohe Kunst der Nahrungsmittelproduktion nicht einigen wenigen Multinationalen und Agrarindustriellen vorbehalten ist, sondern alle Kinder überall ein Grundwissen zum Überleben erwerben können. Wie Javier bewiesen hat, kann mit Know-how und Geduld ein essbarer Wald geschaffen werden, der nach einer Wachstumszeit ständig Nahrung liefert. Sobald ein Stück Land, das vorher brach lag, zur Nahrungsmittelproduktion erschlossen werden kann, erhöht sich sein Wert. Aus diesem Grund sollten essbare Wälder nicht nur unverzichtbarer Bestandteil der Bildung sein, sondern eine Chance für alle, die sich hierfür neue Geschäftsmodelle ausdenken können.

Bilder: Stock.XCHNG

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