86 Von der Wiederaufforstung zu Kleiderbügeln

Dieser Artikel stellt einen neuen Ansatz für die Wiederaufforstung vor, eine von 100 Innovationen im Rahmen von „The Blue Economy”. Dies ist Teil einer breit angelegten Bewegung für mehr Unternehmertum, Wettbewerb und Arbeitsplätze.

 

Der Markt

Der Weltmarkt für Kleiderbügel wird auf 50 Milliarden Einheiten pro Jahr geschätzt, was einem Marktwert von 25 Milliarden US-Dollar entspricht. Die billigsten unter ihnen sind die Drahtbügel, die bei Reinigungen gratis mitgegeben werden. Sie kosten pro Stück nur 8-12 Cent in der Herstellung. Von den 3,3 Milliarden in den USA verbrauchten Bügeln werden etwa 2,7 Milliarden aus China importiert und kosten der letzten Zählung von 2008 zufolge 83,6 Millionen Dollar. Die 30 000 in den USA ansässigen Reinigungsfirmen geben pro Jahr etwa 6500 Dollar oder 10 Prozent ihres Durchschnittsumsatzes für die kostenfreie Abgabe ihrer Bügel an Kunden aus, die dies als essentielle Komponente des Service ansehen. Weltweit enden 7,5 Milliarden Drahtbügel aus Karbidstahl auf Müllhalden, wo sie ein riesiges Rattennest bilden. Das Problem geht so weit, dass einige Städte bereits die Gratisbügel verboten haben, weil sie so viel Unheil auf den Müllhalden verursachen. Der am zweitweitesten verbreitete Typ Kleiderbügel ist aus Plastik, vor allem Polystyren und Polykarbonat. Diese Stücke werden oft mit dem Markennamen versehen und vor allem im Einzelhandel eingesetzt. Mit einem Kostenpreis von 15-50 Cent enden auch diese Bügel meist nach einem einzigen Gebrauch auf Müllhalden, wo sie Benzol und Bisphenol A an die Umwelt abgeben.

Schätzungsweise 15 Prozent aller Bügel im Einzelhandel wird dank der Anstrengungen von Geschäften wie Zara oder Hennes & Mauritz recycelt. Das Recycling ist jedoch komplex, da das Plastik mit Metallen und anderen Kunststoffen kombiniert wird und sich die Rückgewinnung so erschwert und verteuert. Die Gesamtproduktion an Kleiderbügeln verursacht Schätzungen zufolge 6,5 Millionen Tonnen CO2, so viel wie 1,5 Millionen Autos. In dieser Industrie gibt es keine Global Players, die Betriebe sind klein und ortsansässig. Der größte unter ihnen erreicht etwa 250 Millionen Dollar an Verkäufen und ist die privat geführte Firma Mainetti in Castelgomberto (Italien) mit Herstellungsbetrieben in 42 Ländern auf der ganzen Welt.

Die Innovation

Über die Jahre sind die Kleiderbügel eine wahre Lagerstätte für Chemikalien geworden. Von Formaldehyd zur Schädlingsbekämpfung über Phthalate für mehr Biegsamkeit, Azofarbstoffe, Brandhemmer und polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe sind Blei, Quecksilber, Kadmium bis hin zu Chrom(VI) und noch viel mehr enthalten. Nur wenige Menschen wissen, was für ein Chemiemix da in ihrem Schrank hängt. Während mehrere Firmen wie MAWA aus Pfaffenhofen (Deutschland) unter der Leitung von Michaela Schenk bestrebt sind, alle giftigen Komponenten zu meiden, bleibt die Frage, was nun wirklich in den Bügeln steckt und welche Inhaltsstoffe ausgewählt werden sollten, um die Verbraucher von mehr Nachhaltigkeit zu überzeugen, ohne dass das Produkt weniger wettbewerbsfähig würde. Hanger4Life bietet einen soliden, unzerstörbaren Plastikbügel an, während EcoHanger aus 100 Prozent Altpapier hergestellt sind und sich durch Werbung finanzieren. Welches Geschäftsmodell könnte zukünftig noch mehr und besser produzieren?

Lucio Ventania hatte schon immer eine Neigung zum Social Entrepreneur. Als Brasilianer mit afrikanisch-indigenen Wurzeln lernte er Bambus durch seinen chinesischen Nachbarn Master Lu kennen. Ohne jede formelle Bildung, doch inspiriert durch seinen Mentor seit er gerade einmal zehn Jahre alt war, begann er in den frühen 1980er-Jahren, mit Naturfasern zu arbeiten. Nach erfolgreicher Leitung einiger akademischer Seminare über die Nutzung von Bambus gründete er 1988 das Ateliê Pengala in Belo Horizonte, das Straßenkindern eine Ausbildung in der Möbelherstellung mit dem leicht verfügbaren Bambus bot. Sein Erfolg generierte schon bald eine Nachfrage seitens professioneller Architekten und Ingenieure, die ebenfalls die Techniken lernen wollten, die er den Kindern beibrachte.

1996 gründete Lucio das Brazilian Institute for Bamboo und wenig später BAMCRUZ, ein multidisziplinäres Zentrum mit Schauspielern, Ärzten, Sozialarbeitern und Vereinsmitgliedern, das seine Aktivität auf ländliche Kooperativen und Kunstschulen konzentriert und so Chancen für die Schwächsten in der Gesellschaft bietet. Lucios Vision ist es, eine kulturelle, wirtschaftliche und umweltorientierte Plattform für Bambus zu schaffen, um die gesellschaftliche Entwicklung anzukurbeln. Sein Traum ist die Schaffung einer Bambuszivilisation, denn er weiß, dass dieses Gras für 2,5 Milliarden Menschen auf der ganzen Welt Teil des täglichen Lebens ist, doch von fast allen als Symbol für Armut angesehen wird. Er formte die Idee der „Bambuzerias“, einer sozialen Kooperative, die Ökoprodukte aus Bambus herstellt und vertreibt. Das erste Produkt, das er bereits im Jahr 2000 in Masse herzustellen gedachte, waren Kleiderbügel.

Der erste Umsatz

Im Jahr 2001 lernte Lucio die Probleme der Stadt Cajueiro im Staat Alagoas im Nordosten Brasiliens kennen. Früher war hier ein Regenwald, doch dieser wurde in den frühen 1960er-Jahren zerstört, um Platz für Zuckerrohrfarmen zu schaffen. 1990 produzierte diese Region 85 Prozent des gesamten brasilianischen Zuckerrohrs. Dann jedoch zwang die Globalisierung zur Einführung der Mechanisierung und Automatisierung bei Anbau und Ernte des Zuckerrohrs, womit zwei Drittel der Arbeitskräfte überflüssig wurden. Angesichts der Problematik der arbeitslosen Landarbeiter entwarf er zusammen mit der Bevölkerung vor Ort einen Plan, der den Anbau von Bambus mit dem Vertrieb fertiger Produkte verband. Er bot an, den ausgelaugten Boden durch Bambus wieder anzureichern. Die Zuckerrohrbarone überließen ihm trockene und unfruchtbare Böden, auf denen er zu Beginn 10 000 Halme Phyllostachys viridis pflanzte, eine dünnstielige, in der Region wachsende Art mit nur 1,5 cm Durchmesser, die schnell geerntet werden konnte.

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Sechs Monate nach dem Projektstart hatte Lucio 80 ehemalige Arbeiter ausgebildet, um monatlich 5000 Kleiderbügel herzustellen. Diese Bügel sind aus Bambus ohne Klebstoff oder Metallverbindungen und bestehen nur aus den vor Ort verfügbaren Materialien. Die Verpackungskartons dieser Designerbügel wird aus der Bagasse des Zuckerrohrs hergestellt, die in den örtlichen Fabriken anfällt, womit noch mehr Arbeit für die Beschäftigung suchende Bevölkerung entsteht. Schon ab dem ersten Monat erhielten die Arbeiter der Kooperative, in deren Gemeinde hohe Arbeitslosigkeit, Analphabetismus und Kindersterblichkeit vorherrschte, ein Gehalt von 120 Dollar. So konnten die Familien besser leben, während das Geschäft der Anpflanzung, Ernte und Verarbeitung des Bambus sowie der Verkauf der Bügel weiterhin Erträge brachten, die die Ausweitung der Produktion durch eigenen Cashflow ermöglichten. Mehrere Auszeichnungen, unter anderem Casa Planeta, trugen ebenfalls zu einer stabilen Nachfrage nach diesen ökologischen Produkten der Kooperative bei, die inzwischen unter dem Namen „Bambuzeria Capricho“ bekannt ist. Diese Initiative geht über die Schaffung von Arbeitsplätzen hinaus: Sie schafft gesellschaftliches Kapital.

Die Chance

Die Nachfrage stieg weiter an. Der Staat Alagoas besitzt inzwischen drei Produktionszentren, in denen pro Bügel und Arbeiter etwa 10-15 Cruzeiros (6-9 Dollar) eingenommen werden. Die Vertriebskampagne erreicht fast 500 Dollar, ein Vermögen für jeden brasilianischen Arbeiter. Dieses Einkommen trägt zum Aufbau der Gemeinde bei, bietet Arbeit für marginalisierte Bürger und schafft gleichzeitig neue Impulse für die Wiederaufforstung des Atlantischen Regenwalds, indem diese Vorreiter der Artenvielfalt angepflanzt werden und so eine Alternative zum Zuckerrohranbau geschaffen wird. Die Produktpalette hat sich von Bügeln auf Möbel und Gartenutensilien ausgeweitet. Lucio beschloss, dass diese neuen Errungenschaften Chancen für Afro-Brasilianer, arbeitslose Tagelöhner, Straßenkinder und Bürger mit besonderen Bedürfnissen schaffen sollten. Dieser Ansatz der Kombination sozialer, kultureller, ökologischer und wirtschaftlicher Entwicklung ist ein überzeugendes Beispiel, wie die Blue Economy zu einer neuen gesellschaftlichen Entwicklung beitragen und gleichzeitig die Natur zurück auf ihren Weg der Eigendynamik gebracht werden kann. Die ZERI Brasil-Stiftung hat Lucio seit dem Jahr 2000 begleitet, als er den ZERI-Bambuspavillon auf der Expo in Hannover besucht hatte.

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Bis 2012 hat Lucio in über 30 brasilianischen Gemeinden Ausbildungen innerhalb seines Konzepts der Bambuszivilisation angeboten, einschließlich persönlicher Weiterentwicklung, Berufsethik, gesellschaftlicher Integration, Gesundheitsversorgung und Unternehmensgründung. Dies hat bis dato zur Schaffung von fünf Bambuzerias in Form von Kooperativen und einer großen Zahl unabhängiger Handwerksbetriebe geführt, die pro Monat etwa 25 000 Kleiderbügel herstellen. Der Bügel ist zu einem Symbol geworden und noch viele mehr könnten inspiriert durch dieses seit über einem Jahrzehnt erfolgreiche Geschäftsmodell in den Markt eintreten. Lucio glaubt, dass die Ära des Bambus gerade erst begonnen hat, da Bambus sechsmal mehr Zellulose enthält als eine Kiefer, die von skandinavischen und nordamerikanischen Herstellern bevorzugte Ressource für Papier. Auf der Grundlage seiner breitgefächerten Erfahrung im Design für Innen und Außen glaubt Lucio, dass diese Chance zur Schaffung einer Bambuskultur nur noch eine Frage der Zeit ist. Vielleicht ist alles was fehlt, nur noch mehr Unternehmer, die keinen Unterschied zwischen sozialem und echtem Geschäft machen. Die Blue Economy unterstützt nur Unternehmensgründer, die echte Geschäfte machen und dabei noch sozial und ökologisch wirken. Lucio Ventania ist hier ein inspirierendes Beispiel.

Bilder: Stock.XCHNG
https://www.flickr.com/photos/daquellamanera/312347786

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