97 Die neue Generation der urbanen Landwirtschaft

Dieser Artikel stellt Innovationen für die urbane Landwirtschaft vor, eine von 100 Innovationen im Rahmen von „The Blue Economy”. Dies ist Teil einer breit angelegten Bewegung für mehr Unternehmertum, Wettbewerb und Arbeitsplätze.

Der Markt

Seit 2010 lebt die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten. Schätzungsweise 800 Millionen Personen arbeiten weltweit in der urbanen Landwirtschaft und produzieren mindestens 15 Prozent der Gesamtmenge an Lebensmitteln. So wie sie heutzutage betrieben wird, ist die urbane Landwirtschaft primär keine Geldquelle, sondern eher ein Mittel zur Sicherung der Ernährung. Nur in wenigen Ländern wird über ein Drittel der Produktion auf dem Markt verkauft, daher gibt es nur wenig Daten zu Verkäufen und Umsatz. In Madagaskar und Nigeria liegen die Einkünfte aus der urbanen Landwirtschaft bei über 50 Prozent des Einkommens der wirtschaftlich schwächeren Bevölkerung. Die einkommensschwachen Stadtbewohner geben 40-60 Prozent ihres täglichen Einkommens für Lebensmittel aus und sind zunehmend auf lokal produzierte Nahrungsmittel angewiesen. Für 2015 wird erwartet, dass mindestens 25 Städte die 10-Millionen-Einwohner-Grenze überschreiten. Dies erfordert den Import von täglich mindestens 6000 Tonnen Lebensmitteln pro Stadt. Da die Transportkosten vom Land in die Stadt bis zu 90 Prozent des Gesamtpreise ausmachen, werden Lebensmittel unerschwinglich für die ärmere Bevölkerung, deren Situation sich durch Mangelernährung und gesundheitliche Risiken dauerhaft verschärft.

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Um die Bedürfnisse der 250 Millionen armen Stadtbürger weltweit zu befriedigen, muss die Lebensmittelproduktion in den Städten sich mindestens verdoppeln. Die Stadt Havanna ist vielleicht noch die erfolgreichste in der Nutzung urbaner Landwirtschaft zur Sicherung der Ernährung. Dort gibt es 300 000 Hinter- oder Innenhöfe mit einer Gesamtfläche von 2500 Hektar, mit steigender Tendenz hin zu einer halben Million im Jahr 2015. Über 40 Prozent aller Haushalte betreiben irgendeine Form der urbanen Landwirtschaft einschließlich der weit verbreiteten Hydrokultur und sichern sich so 2600 gesunde Kalorien pro Tag und Kopf. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der folgenden Hungersnot gelang es Kuba im Allgemeinen und Havanna im Besonderen, innerhalb eines Jahrzehnts die Mangelernährung zu beseitigen. Während dieser zehn Jahre nahm jeder erwachsene Kubaner im Durchschnitt um 10 Kilo ab und 22 Prozent aller neuen Arbeitsplätze im Land entstanden in der urbanen Landwirtschaft. In Harare, der Hauptstadt Simbabwes, gedeiht die urbane Landwirtschaft ebenfalls bestens. Über ein Viertel aller armen Stadtbewohner betreibt diese Art des Anbaus und trägt so 60 Prozent zum Gesamtbedarf der Nahrungsmittel bei. 80 Prozent der urbanen Landwirtschaft in Harare werden auf öffentlichen Böden betrieben und inzwischen sind 25 Prozent der Stadtfläche zu kleinen Gärten oder Farmen geworden – ein Zeichen des Einfallsreichtums, den die Menschen zur Überwindung ihrer Armut und Mangelernährung entwickeln.

Doch Armut gibt es nicht nur in den Städten der Dritten Welt. In den USA leben bereits 50 Millionen Einwohner ohne gesicherte Ernährung und in Europa sind schätzungsweise 30 Millionen Stadtbürger unterernährt. In einer Stadt wie Chicago gibt es 600 Gemeindegärten mit einer Fläche von 300 000 m2 Gemüseanbau auf Dächern, in Detroit sogar 1300 Gärten. Die Kosten zur Bewirtschaftung von 2000 m2 belaufen sich auf etwa 25 000 Dollar und sind durch Mikrokredite finanzierbar, die jedoch nicht leicht bewilligt werden.

Die Innovation

Gemeinhin gilt die urbane Landwirtschaft als kleinräumig und unproduktiv. Die Herausforderung liegt hauptsächlich in der Kontrolle der Qualität und der Steigerung der Produktivität. Die Einführung der Perma- und Hydrokultur in städtischen Räumen bot einen ersten Durchbruch. Die Permakultur beruht auf der Logik der Kombination dreier Reiche der Natur (Pflanzen, Tiere und Mineralien) nach dem Wissen der Biologen in den 1970er-Jahren. Seitdem wurde die Theorie auf fünf Reiche erweitert (Bakterien/Einzeller, Algen/Protisten, Pilze, Pflanzen und Tiere). So konnte die lokale Landwirtschaft auf Pilze und Algen ausgeweitet werden (Siehe Beispiel 3 und 21). Ziel ist jedoch die Verdopplung des Ertrags in der urbanen Landwirtschaft, womit Transport-, Lager- und Kühlkosten eingespart und so die Lebensmittelkosten für die armen Stadtbewohner um 90 Prozent gesenkt werden könnten. Es werden also noch ehrgeizigere Ideen und Unternehmensgründer gesucht. Zwar funktioniert die urbane Landwirtschaft in tropischen Zonen gut, doch wie sieht es in den gemäßigten oder kalten Klimazonen aus?

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Der gebürtige Libanese Mohamed Hage ist mit Leib und Seele Geschäftsmann. Er gründete eine durch Werbung finanzierte Web-Community über Robotik und Elektronik, die schnell in Cypra Media mündete, einen der größten Provider für Email-Marketing in seiner Wahlheimat Kanada. Als Mensch, der sich gern im Freien aufhält und motiviert durch seine Leidenschaft für Haute Cuisine und frische Lebensmittel, wie er sie aus seiner Kindheit im Mittelmeerraum kannte, dachte er sich ein neuartiges Modell für die Landwirtschaft aus, das in Großstädten umgesetzt werden kann. Im kanadischen Montreal mit seinen harten und kalten Wintern entwarf er Treibhäuser auf Dächern, in denen die Lebensmittel für den Bedarf der Städter wachsen. Zwar verstand er viel von Technologie, doch er besaß nur begrenztes Wissen im Feldbau. Also gründete er eine Allianz auf akademischer Ebene mit der McGill University und erforschte, wie sein unternehmerisches Talent ein Geschäftsmodell hervorbringen könnte, das über Gemeindegärten hinausgeht, die nur halbjährlich betrieben werden. Sein Ziel war der ganzjährige Betrieb trotz des kalten Winterwetters.

Der erste Umsatz

Mit einem Startkapital von 2 Millionen Dollar gründete Mohamed die Lufa Farms, deren Name durch die libanesische Luffa-Pflanze inspiriert ist (Luffa aegyptiaca), die in seiner Heimat als pflanzlicher Schwamm und anfangs auch als Nährboden in der Hydrokultur eingesetzt wurde. Er mobilisierte ein vielseitiges Team und vereinte alles vor Ort verfügbare Wissen, um den ersten Nutz-Dachgarten anzulegen, der an die schneereichen kanadischen Winter angepasst war und gleichzeitig den städtischen Bauvorschriften entsprach. Es war viel Geduld nötig, um das wissenschaftlich fundierte und gut finanzierte Projekt zu Ende zu führen. Es dauerte ein Jahr, um die städtischen Bauvorschriften dahingehend zu ändern, dass sie die Landwirtschaft im Stadtzentrum erlaubten. Nach vier Jahren hatte er alle technischen und gesetzlichen Herausforderungen gemeistert und liefert nun ganzjährig Nahrungsmittel wie Obst und Gemüse zum täglichen Genuss an Menschen in der Innenstadt.

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Die Anlage liegt im Viertel Ahuntsic-Cartierville in Montreal, nahe dem Zentralen Marktplatz, auf einem 3000 m2 großen Dach. Sie liefert wöchentlich 1000 Körbe frischer Lebensmittel zu einem Preis von 22-42 kanadischen Dollar pro Einheit. Für den Anfang wird der Betrieb durch Spenden und freie Unterstützung aus Wissenschaft und Technik getragen; um das Unternehmen rentabel zu machen, bedarf es weiterer Anlagen. Da die Dachkonstruktionen nicht genügend Erde für den Anbau von Kartoffeln oder Karotten tragen können, konzentriert er sich auf Tomaten, Gurken, Pfeffer, Paprika, Auberginen, Salat, Senfkohl und Kräuter, ein Portfolio von 25-30 Arten für den Anbau im Dachgarten. Zur Ergänzung um die fehlenden Zutaten für einen kompletten Lebensmittelkorb für die ganze Familie schloss Mohamed Partnerschaften mit städtischen Biofarmen.

Eine Studie hat belegt, dass sein Ansatz der urbanen Landwirtschaft Nahrungsmittel hervorbringt, die frei von Pestiziden und Gentechnik sind und auf einem Raum produziert werden, der nur ein Zehntel der herkömmlichen Anbaufläche beträgt. Alles benötigte Wasser ist aufgefangenes Regenwasser und die für den Anbau benötigten unterschiedlichen Temperaturen werden durch „heiße“ und „kalte“ Zonen erzeugt, um so ideale Bedingungen für den Anbau zu schaffen. So ergibt sich ein Zehnfaches an Produktivität bei einem Achtel des Energieverbrauchs für Transport, eine Verringerung der Energiekosten des Gebäudes sowie die Unabhängigkeit von Bewässerung im Gegensatz zum Rest der Welt, in dem die Landwirtschaft 80 Prozent allen Trinkwassers verbraucht. Somit ist dieser Betrieb ein interessantes Beispiel für die Blue Economy. Aufgrund seines Erfolgs in seinem Erstbetrieb erhielt Mohamed im Jahr 2011 den „Next Generation Award“ von der Stadt Montreal.

Die Chance

Verfügbare Dachflächen und Regenwasser werden genutzt, die Raumtemperatur der Gebäude wird reguliert, in der Innenstadt werden Lebensmittel zu wettbewerbsfähigen Kosten ohne Chemikalien hergestellt, Transportkosten werden drastisch gesenkt und es werden ein Dutzend Arbeitsplätze geschaffen. Auch deckt der Verbund der Landwirtschaft in der Innenstadt mit dem Stadtrand den Lebensmittelbedarf der Bürger. Dieser systemische Ansatz liefert eine Perspektive, wie man die Verdopplung der Anbauerträge in der Innenstadt erreichen könnte, und dies sogar in gemäßigten und kalten Zonen, in denen die Dachbegrünung an sich schon revolutionär war. In den USA gibt es 1,4 Millionen Quadratmeter Fläche auf Flachdächern über Geschäfts- und Bürohäusern. Auf Grundlage der Erfahrungen der Lufa Farms in Montreal könnte dies bedeuten, dass 50 Milliarden Familien jeden Werktag einen frischen Korb Gemüse erhalten könnten und dabei 470 000 neue Jobs entstünden. Das bedeutet, dass es keinen Grund gibt, warum 50 Millionen Städter in Armut leben sollen, solange es Unternehmer wie Mohamed gibt, die die Spielregeln ändern können und sowohl wettbewerbsfähig als auch nachhaltig produzieren. Obendrein wäre dies ein großer Beitrag zu einer gesunden Ernährung in einem Land, in dem ein Großteil der Bevölkerung übergewichtig ist.

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Die erfolgreiche Umsetzung einer so großräumigen Strategie zur Herstellung gesunder Nahrung vor Ort erfordert einen Verbund neuer Partnerschaften, wie sie Mohamed bereits erfolgreich geschlossen hat. Er arbeitet zusammen mit Bauingenieuren, Treibhaustechnikern, Biobauern, Marketing- und Vertriebsexperten, Internetspezialisten, Kooperativen, Grundstücksinvestoren, Architekten, örtlichen Politikern und Ernährungsberatern, die ebenso gebraucht werden wie die Bauentwickler, die diesen innovativen Ansatz vorantreiben. Ziel ist es, nicht nur Lebensmittel zu produzieren, sondern ein wettbewerbsfähiges Angebot zu schaffen, das die lokale Entwicklung auf Grundlage der örtlich verfügbaren Ressourcen nach den Prinzipien der Blue Economy fördert. So können wir Szenarien schaffen, die weit über das hinaus gehen, was die Investoren in den letzten Jahren gesehen haben. Vor allem wird klar, dass alle über ihre Kernkompetenzen hinaus gehen müssen, um das volle Potenzial ihrer Anlagegüter und Cashflows nutzen zu können – und hierzu bedarf es einer neuen Generation von Unternehmensgründern.

Bilder: Stock.XCHNG

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