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93 Von Brennnesseln zu Arbeitsplätzen

Dieser Artikel stellt Wildkräuter als natürliche Verbundwerkstoffe vor, eine von 100 Innovationen im Rahmen von „The Blue Economy”. Dies ist Teil einer breit angelegten Bewegung für mehr Unternehmertum, Wettbewerb und Arbeitsplätze.

 

Der Markt

Im Jahr 2010 überstieg der weltweite Markt für natürliche Faserverbundwerkstoffe den geschätzten Marktwert von 2 Milliarden US-Dollar. Bereits von 2005 bis 2010 verzeichnete der Markt eine jährliche Wachstumsrate von 15 Prozent. In den nächsten 5 Jahren wird von einem jährlichen Wachstum von 10 Prozent ausgegangen und eine Verdoppelung des Marktwertes auf 3,8 Milliarden US-Dollar in 2016 erwartet. Mit mehr als 50 Prozent des Gesamtumsatzes, ist Europa mit einer stabilen Nachfrage aus der Automobilbranche der stärkste Markt, der die Werkstoffe zur Herstellung von Türverkleidungen, Sitzlehnen, Armaturen und Stoßstangen einsetzt. Die Verwendung von natürlichen Verbundwerkstoffen zur Produktion von Stoßfängern und Schutzleisten machen bereits einen Marktwert von 162 Millionen US-Dollar aus. Dies entspricht einem Gesamtgewicht natürlicher Materialien von ca. 162.000 Tonnen. Die Elektrotechnik-Industrie setzt ebenfalls in der Herstellung von Telefonen und Computergehäusen immer mehr auf natürliche Verbundwerkstoffe.

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Henry Ford entwickelte einen seiner Prototypen auf Basis des natürlichen Verbundwerkstoffs Hanf. Erstmalig wurde in der Automobilindustrie für die Herstellung der Karosserie des ostdeutschen Trabanten ein natürlicher Verbundwerkstoff, hier ein Mix aus Baumwolle und Polyester, eingesetzt. Unternehmen wie Audi, BMW und Volvo haben bereits auf die Verwendung von natürlichen Verbundwerkstoffen in Produkten umgestellt. General Motors folgt diesem Trend und könnte die USA zur zweitgrößte Region im Verbrauch von natürlichen Verbundwerkstoffen weit vor Japan positionieren. NEC war im Jahr 2006 weltweit das erste Unternehmen aus der Branche der Elektrotechnik, das Kenaf und Polymilchsäure für die Produktion von Mobiltelefon-Gehäusen verwendete. Johan Museeuw, ein belgischer Radrennfahrer, gründete ein Unternehmen für die Herstellung von Rennrädern und entwickelte den ersten Rennradrahmen aus einem Verbund aus Flachs und Epoxidharz – das Ergebnis: ein kostengünstiger Anti-Vibrationsrahmen. Die Bauindustrie ist der zweitgrößte Markt für Verbundwerkstoffe, der sich auf Kunststoffe auf Basis von Holz konzentriert. Die Nachfrage nach Carbon und Glasfaser leidet unter dieser neuen Konkurrenz. Die natürlichen Verbundwerkstoffe aus Flachs, Hanf, Kenaf und das reichlich verfügbare Sisal, das hauptsächlich für Seile verwendet wird, zeichnen sich durch niedrigere Kosten und geringeres Gewicht aus.

Zusätzlich bieten Flachsfasern eine sehr hohe Verstärkung und Zugfestigkeit. In der Automobilindustrie haben natürliche Verbundwerkstoffe fast ein 8-mal besseres Preis-/Leistungsverhältnis als Stahl und 14-mal besseres als Aluminium erzielt. Die steigenden Preise für Mineralölprodukte, die staatliche Förderungen für grüne Produkte, die hohe Akzeptanz und Nachfrage durch die Verbraucher werden in absehbarer Zeit die natürlichen Verbundwerkstoffe auf einen Rekordwert bewegen.

Die Innovation

Die wichtigsten Treiber für Innovationen auf Basis von natürlichen Verbundwerkstoffen sind die geringen Kosten, eine geringe Feuchtigkeitsaufnahme, keine Korrosion und die höhere Gleichmäßigkeit als Holz. Die Bauindustrie wird schon seit langer Zeit für die Verwendung von Harthölzern wie Teak, die in eine massive Abholzung geführt hat, kritisiert. Da sich Fensterrahmen, Zäune und Wandpaneele auch aus Reisschalen und Bagasse herstellen lassen, ersetzen zunehmend Hersteller ihre bisher verwendeten Tropenhölzer gegen natürliche Verbundwerkstoffe. Flachs, Kenaf und Hanf, die sehr gute Eigenschaften in der Dämmung aufweisen, ersetzen immer mehr Kunststoffe und Metalle. Mit Ausnahme der Reisschalen, die ein Abfallstoff sind, konkurrieren alle anderen Naturfasern mit landwirtschaftlicher Nutzfläche für die Produktion von Lebensmitteln. Das ist eine sehr große Herausforderung im Wandel zu einer nachhaltig handelnden Gesellschaft, deren Grundbedürfnisse, beginnend mit Wasser und Nahrung, bewahrt werden müssen.

Unterstützt durch die kreative Forschungsarbeit von Jeroen Bos entdeckten Carla Wobma und ihr Partner Bob Crebas aus den Niederlanden die Nutzung der Brennnesselfasern neu, einer Pflanz, die auf eine lange Historie in der Arzneimittelherstellung zurückblickt. Dokumentationen zufolge wurden bereits 900 n. Chr. wilde Brennnesseln für die Herstellung von Textilien verwendet und kamen in den meisten Fällen als Luxustextilien für Königshäuser zum Einsatz. Die Brennnessel ist eins der neun Zauberkräuter, die von den Angelsachsen im 10. Jahrhundert aufgezeichnet worden sind. Sie wurde bereits im mittelalterlichen Europa zur Befreiung des Körpers von überschüssigem Wasser und zur Behandlung von Gelenkschmerzen eingesetzt. Die Brennnessel bietet mehr als nur medizinische Heilungen – sie ist nahrhaft wie Spinat und Gurken, reich an Vitamin A und C und beinhaltet die benötigten Tagesmengen von Kalium und Calcium. Als Getränk bietet es eine Quelle von Zitronensäure mit natürlich langer Haltbarkeit. Es gibt sogar ein Brennnesselbier, ein beliebtes Getränk in Großbritannien. Brennnessel wird seit jeher neben Leinen als Rohstoff für Textilien verwendet und erfordert keine Pestizide. Selbst Farbstoff kann man aus ihr gewinnen – gelb von den Wurzeln und gelb-grün aus den Blättern. Bhutan ist das einzige Land, wo das Ernten von Wildkräutern zur Herstellung von Kleidung, wie für die als „Goh“ bekannte Herren-Jacke, weit verbreitet ist.

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Bob und Jeroen haben Produktionsforschung in Großbritannien, Russland, Deutschland und den Niederlanden studiert und aufgezeigt, dass auf jedem Hektar sechs Tonnen Brennnesseln wachsen, mit einem Ertrag von 600-780 kg Nesselfasern. Diese Fasern erzielen auf dem Markt einen vier- bis fünffach höheren Preis als Baumwolle. – im Vergleich dazu: 2.000 EUR pro Hektar für Mais und 1.000 EUR / ha für Sonnenblumen. Während die meisten natürlichen Ressourcen jedes Jahr neu ausgesät werden müssen, sind Brennnesseln mehrjährig und benötigen keine Bewässerung. Somit können die Kosten für Energie, Arbeitskraft und Kapital im Vergleich zu Baumwolle drastisch gesenkt werden.

Jeroen Bos und die Familie Crebas extrahierten die Fasern der Brennnessel mittels eines Experimentes, bei dem beheizte Vakuum-Zylinder eingesetzt wurden. Im Rahmen einer Testproduktion kombinierten sie die Verrottung, Fermentierung und Wasseraufbereitung unter Zugabe von Regenwasser, aus jeder Tonne verarbeiteter Brennnessel 50 bis 55 Kubikmeter Biogas mit einem Anteil von 75 Prozent Methan herzustellen. Jeroen konzentrierte sich auf die Optimierung der Prozesse und erforschte die Verwendung des hergestellten Gases für die Trocknung der produzierten Fasern. Es scheint, dass durch Nutzung der Gärprozesse, die bereits in anderen Beispielen beschrieben wurden (siehe Beispiel 51), die Herstellung der Rohfasern allein durch Energiezufuhr aus dem Produktionsbetrieb selbst bewerkstelligt werden und so das Ziel der Nullemissionen erreicht werden kann, indem verschiedene Abfallströme kombiniert werden.

Im nachfolgenden Schritt taucht das Team von Netl die Rohfasern in ein Glyzerinbad, ein natürliches Nebenprodukt der Seifenfertigung, um die Herstellung von einzelnen Fasern zu ermöglichen. Ein landwirtschaftlicher Herstellungsprozess, der vorhandene Ressourcen nutzt, den eigenen Energiebedarf deckt, Wasser kontinuierlich aufbereitet und dabei immer mehr Nährstoffe und Material extrahiert, der dabei einfach bleibt und gleichzeitig hochwertige Produkte zu wettbewerbsfähigen Kosten liefert, ist ein sehr gutes Beispiel, das im Detail die Prinzipien der Blue Economy wiedergibt. Daher sollte man die gewonnenen Brennnesselfasern „Blaue Faser“ (Blue Fibre) nennen.

Der erste Umsatz

2006 gründete Bob Crebas das Unternehmen „Netl“. Carla konzentrierte sich fortan mit Experten aus Italien, Großbritannien und Frankreich auf das Spinnen der Fasern. Das Garn wird in Litauen und den Niederlanden zu Stoffen verstrickt und zu einer eigenen Damenbekleidungs-Modelinie weiterverarbeitet. Das Paar baute einen 48 Hektar großen Brennnesselpark und integrierte ein Produktionssystem von der landwirtschaftlichen Produktion bis hin zum Endprodukt. Ihre eigene Modelinie boten sie auf dem internationalen Markt zu Beginn 2012 an. Es konnten in der ersten Phase vier landwirtschaftliche Standorte in Europa erschlossen werden und eine Nachfrage für ihr Produkt, das keine Pestizid behandelten Baumwollfasern beinhaltet, generieren. Das Potential ist stark und das Geschäftsmodell ist wettbewerbsfähig, auch wenn das Preisgefüge heute noch nicht dem der Baumwollbranche entspricht. Der geschaffene Wert für den Kunden und die Natur birgt vielfältige Vorteile und Einnahmen, die dringend benötigt werden, um die Bekleidungsindustrie in eine wettbewerbsfähige Nachhaltigkeit zu steuern.

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Die Chance

Während Netl sich weiterhin mit der Entwicklung von Serienprodukten befasst, schließen sich bereits weitere Unternehmer an, so zum Beispiel Paul van Zoggel, ebenfalls Niederländer. Das innovative Produktportfolio umfasst das Design einer Reihe von neuen Fasern aus Brennnesseln, algenbasierten Garnen und Seide, dem Triumvirat der Fasern der Blue Economy. Das im Produktionsprozess anfallende Wasser ist reich an organischen Stoffen. Es sieht zwar nicht wirklich aus wie eine essbare Suppe, doch es enthält Vitamine, Eisen und Kalium und ist letztlich ein idealer Nährbodenmix, aus dem im weiteren Schritt in die natürlichen Nährstoffe extrahiert werden können. Nach näherer Erforschung der Eigenschaften der Nesselfasern und unter Betrachtung der Nutzungsmöglichkeiten für Flachs ist auch das erste Produkt aus natürlichem Verbundwerkstoff bereits entwickelt: ein Brotkasten und ein Trinkbecher. Die niederländische Aerospace Laboratory erkannte die hohe Festigkeit im Vergleich zu Glasfaser und die hohe Zugfestigkeit, die höher als bei jeder anderen Naturfaser ist, und erwägt ihre Nutzung für die Zukunft.

Die Verlagerung von dem Einsatz von Baumwolle hin zu Textilien aus Brennnesseln ist in jeder Hinsicht eine bemerkenswerte Verbesserung. Dies ergänzt Flachs, Leinen, Hanf, und Kenaf in der Reihe der wilden Pflanzen und ermöglicht einen Anbau sogar auf verschmutzten landwirtschaftlichen Flächen, schafft Arbeitsplätze und bietet eine Ergänzung für den Markt der natürlichen Fasern, die von Industrie und Endverbraucher eine zunehmende Nachfrage verzeichnen. Brennnessel ist eine Rückkehr zu alten Traditionen, die bereits rund ein Jahrtausend alt sind. Die Vision könnte sein, dass die Brennnessel zusammen mit den Algen kontaminierte Böden, verschmutzte Luft und Wasser reinigt und uns die Luft zum Atmen und Wasser zum Trinken sichert. Es gibt bereits Unternehmen in Deutschland, die auf den fahrenden Zug aufgesprungen sind, das Risiko eingehen und durch das innovative Geschäftsmodell der Vorbestellung sicher auf dem Weg sind, die dynamische Marktbewegung mitzugestalten.

Bilder: Stock.XCHNG, morguefile
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77 Algen

Der Markt

Im Jahr 2010 wurden weltweit Naturfasern pflanzlichen und tierischen Ursprungs im Wert von 50 Milliarden US-Dollar hergestellt, entsprechend 35 Millionen Tonnen, von denen 23 Millionen für Textilien und Kleidung verwendet wurden. Die restlichen 12 Millionen Tonnen wurden in einer Reihe von Industrie- und Konsumgütern eingesetzt wie Verstärkungen für Thermoplastik-Platten in europäischen Autos, Verbundplatten mit Kokosfaser in der indischen Bauindustrie, die resistenter als Teakholz sind, Sisal für Dächer in Brasilien sowie Hanf, der 2008 zu den Olympischen Spielen in China dem Zement beigemischt wurde. Der Weltmarkt für Naturfasern Baustoffen der Automobil-, Bau-, Sport- und Freizeitindustrie wurde 2010 mit 2,1 Milliarden Dollar bewertet und es wird erwartet, dass dieser Wert sich bis 2015 verdoppelt. Fahrzeuge von BMW enthalten bis zu 24 Kilogramm Flachs und Sisal, die in Verbundmaterialien für Innenverkleidungen und Armaturenbrettern verarbeitet wurden. Die Mercedes Benz A-Klasse nutzt Naturmaterialien im Unterbau, nicht nur weil sie natürlich sind, sondern vielmehr aufgrund ihrer hohen Performance und Haltbarkeit im Verhältnis zum Gewicht.

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Die weltweit am weitesten verbreitete Naturfaser ist Baumwolle mit jährlich 25 Millionen Tonnen. Die drei größten Baumwollproduzenten sind China (32%), Indien (22%) und die USA (12%). Baumwolle befindet sich jedoch auf dem Rückzug, vor allem in den USA, wo die Anbauflächen für diese Faser in nur einem Jahr um 30 Prozent auf knapp über 3 Millionen Hektar reduziert wurden, so wenig wie zuletzt 1983. Bisher lag der Hauptgrund für diesen Abwärtstrend im zunehmenden Ersatz durch synthetische Fasern, doch inzwischen beruht die Tendenz auf dem Wunsch Chinas, auf den bisher für Baumwolle genutzten Landflächen Nahrungsmittel anzubauen. China will auf breiter Ebene den wasserintensiven Baumwollanbau durch Nahrungsmittelanbau ersetzen. Die Baumwolle ersetzen sie wiederum durch Industriehanf. Zuchthanf wird somit innerhalb weniger Jahre von bescheidenen 20 000 Ha bis auf vielleicht 1,3 Millionen Ha expandieren. Hanf gedeiht gut auf hügeligen und weniger fruchtbaren Böden ohne Bewässerung und wirkt der Erosion entgegen; er dient somit dem Ökosystem. Die zweitwichtigste Naturfaser der Welt ist Jute mit 2,9 Millionen Tonnen, die vor allem in Indien angebaut wird und höhere Preise erzielt als Baumwolle (bis zu 400 Dollar pro Tonne), da sie vor allem als Ersatz für Plastik-Verpackungen eingesetzt und ihr Preis daher vom Ölpreis mitbestimmt wird.

Die Innovation

Naturfasern sind beliebt und werden überall mehr und mehr nachgefragt. Eine stärkere industrielle Nutzung ist aufgrund von Qualitätsschwankungen und schlechter Feuerfestigkeit (außer bei Wolle) sowie ihrer geringen Festigkeit nur begrenzt möglich. Andererseits werden die Formfestigkeit sowie die Eigenschaft zu brechen, ohne scharfe oder gefährliche Kanten zu bilden, auch als Vorteile gesehen. Eine der größten Herausforderungen bleibt jedoch, dass die meisten Pflanzenfasern mit der Nahrungsmittelproduktion um Anbaugebiete konkurrieren. Es gibt Versuche, beispielsweise Wasserhyazinthen in stabile Fasern für Möbel und Accessoires zu verarbeiten. Diese invasive Spezies verstopft Flüsse und Dämme in Afrika und Asien und ernährt sich von den Nährstoffen, die durch Bodenerosion und übermäßige Düngung in die Flüsse gelangen. Abgesehen von einigen kleinen Neuerungen für diese Wasserpflanze in Thailand und Bangladesh werden weitere natürlich vorkommende und reich verfügbare Faserressourcen gesucht, aus denen hochwertige Produkte hergestellt werden können, ohne die Ernährungssicherung zu gefährden.

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Ji Yujun war Vorsitzender des 7., 8., 9. und 10. Nationalen Volkskongresses von China, doch im Herzen ist er Unternehmer. Als Parteifunktionär war er stets um das Wirtschaftswachstum im Einklang mit der Sicherung des gesellschaftlichen Wohlstands bemüht. Seine Karriere begann 1980 als Direktor einer Handtuchfabrik, die außerstande war, die Qualitätsansprüche zu erfüllen. Dies war zu Zeiten der Planwirtschaft, während der Baumwolle nur unregelmäßig und nicht auf Bestellung lieferbar war. Unter der Leitung von Ji Yujun verbesserte sich die Qualität, somit stieg auch die Produktionsmenge dank des Imports neuerer Verarbeitungsmaschinen aus Japan und Deutschland. Ji begann dann, die Handtuchfabrik mit den staatlichen und städtischen Betrieben unter der Marke Xi Ying Men zu vereinen. Diese ging 2005 als führende Marke der chinesischen Textilindustrie hervor. Während sich die Produktion konsolidierte, beschloss er, in die Forschung zu investieren, um verschiedene Rohstofflieferströme zu erschließen.

Ji Yujun und sein Team ließen sich davon inspirieren, dass jedes Jahr im Juni und Juli an der Küste von Qingdao grüne Algen auftreten, die große Mengen Sauerstoff verbrauchen und so das Leben im Meer sowie die Fischerei bedrohen. Im Jahr 2007 brachte eine Algenpest in Taihu, Chinas drittgrößtem Süßwassersee, die Wasserversorgung für eine Million Menschen in Wuxi in der Provinz Jiangsu für etwa zehn Tage zum Erliegen. Bevor die Segelwettkämpfe der Olympischen Spiele 2008 in Qingdao beginnen konnten, entfernten Freiwillige und die Armee fast eine Million Tonnen Algen aus dem Meer. Da das Algenwachstum oft Chinas Wasserwege blockiert und das Ökosystem im Meer sowie die Fischerei bedroht, wurde eine gemeinsame Forschungsinitiative mit dem nationalen Labor für Neue Materialien der Universität Qingdao bewilligt, um das Potential der Algen als Faserlieferant zu untersuchen.

Der erste Umsatz

Anfangs waren die Algen empfindlich und nur verwendbar für medizinische Stoffe wie Binden oder in der Chirurgie. Später gelang es dem Team, einen neuen Extraktionsprozess für Rohfasern aus Seetang zu optimieren. Da diese Fasern stärker und stabiler als Baumwolle waren, untersuchte das Forschungsteam die Extraktion von hochfesten Algenfasern aus einer Vielzahl verschiedener Grün- Braun- und Rotalgen. Dabei fanden sie heraus, dass die neuen Fasern feuersicher und unempfindlich gegen elektromagnetische Wellen waren. Somit liefern die Fasern auf Algenbasis einen einzigartigen Rohstoff für spezielle Kleidung wie feuerfeste Anzüge, Klinikuniformen sowie Schutzkleidung für militärische Zwecke.

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Der neu entwickelte Extraktionsprozess für Algen ermöglicht die Gewinnung von 200-250 kg Rohfaser pro Tonne getrockneter Algen. Die Produktionskosten für Algenfasern schwanken zwischen 8000 und 10 000 Dollar pro Tonne. Da China der weltgrößte Algenproduzent ist und etwa die Hälfte der einfachen Produktionsmenge stellt, besitzt es Rohstoffe zur Algenfaserproduktion im Überfluss. Dies bedeutet, dass die minderwertigen Algen zu hohen Preisen verkauft werden können. Noch besser ist, dass die Beseitigung des Algenwachstums Arbeitsplätze und hochwertige Produkte mit sicherem Marktwert schafft. Die Reaktion der Kunden auf erste Versuche bewegten Ji Yujun dazu, eine Anlage zur Faserherstellung mit einer Kapazität von 1000 Tonnen zu bauen, die 2011 in Betrieb genommen wurde.

Die Chance

Die ersten Verkäufe von Textilprodukten auf Algenbasis sind von den Kunden auf breiter Ebene positiv aufgenommen worden, da weithin bekannt ist, dass Algenextrakte die Hautgesundheit fördern und erhalten. Die Vorkommen an Algen in China können eine Produktion von 1,9 Millionen Tonnen des erneuerbaren Rohstoffs Algenfaser ermöglichen. So könnten Algenfasern aus dem Nichts als drittwichtigste natürliche Faser den Markt durchdringen. Dies würde bedeuten, dass China (und die Welt) ihre Abhängigkeit von der Pestizidabhängigen und wasserintensiven Baumwolle weiter vermindern könnten, ohne weitere Ackerbauflächen zu beanspruchen. Inzwischen gibt es nicht nur Stoffe für Bandagen und Spezialbekleidung aus Algenfasern, sondern auch schon Modewaren.

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Es entstehen neue Modemarken wie „Twosquaremeter“ in Deutschland, eine Startup-Firma, die Textilien auf Algenbasis vertreibt, die nachweislich die Regeneration der Haut fördern und sie pflegen. Ein Rock oder Kleid kostet zwischen 100 und 250 Euro; dies ist zwar ein Vielfaches der Preise von Zara oder H&M, doch nur ein Bruchteil anderer berühmter Marken. So erobern Textilien auf Algenbasis eine Nische in der Bekleidung; sie ist gesund für ihren Träger und für die Natur, aus der sie auf nachhaltige Weise gewonnen wird. Wenn die Algenblütezeit in die Produktion einbezogen wird, findet sich hier eine beispielhafte Umsetzung des Konzepts der Blue Economy. Die Beseitigung der Algen kostet Geld, doch diese Ressource aus Salz- oder Süßwasser bringt Erträge, geht auf bestehende Nachfrage am Markt ein und schafft Arbeitsplätze sowie entscheidende Verbesserung gegenüber der Entsorgung dieser fruchtbaren Biomasse auf Deponien, wo sie verrottet und Methangas abgibt.

Das Potenzial der Seetangfasern hat bereits Wettbewerber auf den Plan gerufen. Die Qingdao Xi Ying Men-Gruppe hat zwar die weltweit größte Produktionsanlage, doch es gibt Konkurrenten wie die New Fibers Textile Corporation aus Taiwan, die eine kombinierte Faser aus Zellulose und Seetang herstellt, beides erneuerbare Ressourcen. Der deutsche Chemiekonzern Zimmer AG hat ähnliche Fasern erfunden, den Betrieb jedoch an die Smart Fiber AG verkauft, die inzwischen eine Produktionskapazität von jährlich 500 Tonnen in Rudolstadt hat und Algen aus der Nordsee verarbeitet, die sie an die Fabrik Lenzing in Österreich liefert, einer führenden Firma für Zellulosefasern. Das Team von Smart Fiber stellt antibakterielle, geruchsmindernde, hautfreundliche, wärmeregulierende, stromleitende sowie chemisch und thermisch resistente Fasern her. Hier beginnt der Markt der therapeutischen und Funktionskleidung und es öffnet sich ein weites Feld für Unternehmensgründer weltweit.

Bilder: Stock.XCHNG

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3. Kaffee: Von Fasern zu Proteinen

Kaffee: Von Fasern zu Proteinen

Wandelt Methan in CO2 um, sichert die Nahrungsproduktion und schafft 50 Millionen Jobs

Der Markt

Im Jahr 2009 wurden weltweit 126 Millionen Sack Kaffee konsumiert, was 7,5 Millionen Tonnen Kaffeebohnen für die Röstung entspricht. Wenige Menschen sind sich bewusst, dass bei der Ernte, Verarbeitung, Röstung und Zubereitung von Kaffee schätzungsweise 99,7 Prozent der Biomasse weggeworfen werden. Während nur 0,2% auf dem Markt verwertet werden, landet der hoch koffeinhaltige Rest auf dem Müll. Etwa 12 Millionen Tonnen landwirtschaftlicher Abfallprodukte verrotten und produzieren dabei Millionen Tonnen von Methan, das wiederum zum Klimawandel beiträgt. So stellt Kaffee eins der verschwenderischsten Konsumprodukte der Welt dar.

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Professor Shuting Chang, dem führenden Forscher für Pilzkulturen zufolge, hat der weltweite Handel mit Pilzen im Jahr 2008 die Marke von 17 Milliarden US-Dollar überschritten. Die Nachfrage nach Pilzen, insbesondere der tropischen Sorten wie Shiitake, Maietake und Ganoderma verzeichnet seit Jahrzehnten Steigerungen im zweistelligen Bereich. Der Trend der Konsumenten zu Nahrungsmitteln, die frei von Cholesterin und gesättigten Fettsäuren sind, lässt erwarten, dass der durchschnittliche Pro-Kopf-Verbrauch von derzeit 175 Gramm tropischer Pilze in den USA und Europa im nächsten Jahrzehnt bis auf 500 Gramm ansteigen wird. Der erwartete Zuwachs an Verkaufserlösen liegt bei 2,3 Milliarden US-Dollar. Würden in der westlichen Welt so viel Pilze wie in Hongkong konsumiert (17 kg pro Jahr und Person), ergäbe sich ein schwindelerregender Zuwachs von 120 Milliarden US-Dollar im Handel. Im Zeitrahmen einer Menschengeneration würden tropische Pilze als Wohlstandsprodukt Metalle und Kaffee übertreffen – und die Amerikaner würden sich viel gesünder ernähren.

Die Innovation

Der Pilzanbau verlangt die Kontrolle von Bakterienkulturen bei hohem Energiebedarf. Jedoch wird bei der Kaffeeproduktion, sowohl durch die Fermentierung auf der Farm selbst, beim Schälungsprozess als auch bei der Zubereitung der gemahlenen Bohnen im heißen Wasser, der Bakteriengehalt auf ein Minimum reduziert, was wiederum den Pilzkulturen ermöglicht, Pflanzenfasern zu zersetzen. Daher ist die Pilzzucht auf Kaffee um 80 Prozent energieeffizienter als als ein eigenständiger, energieintensiver Prozess zur Aufbereitung von Dünger für Pilzkulturen.

Hochwertige tropische Pilze werden auf Harthölzern, z.B. Eichenholz, kultiviert. Harthölzer werden geschlagen, gemahlen und in künstliche Stämme umgewandelt. Bis zu 9 Monate dauert die Reifung von Shiitake oder Ganoderma. Gehölzschnitte, Schalen, Fruchtfleisch und Pulver sind jedoch Nebenprodukte im Kaffeeanbau, und die Pflanze selbst eine koffeinreiche Sorte Hartholz. Während Kühe oder Schweine Koffein schlecht vertragen, wirkt die biochemische Substanz derart stimulierend auf Pilzsporen, dass die Pilze bereits drei Monate nach der Aussaat sprießen. So wird ein höherer Geldumlauf erzielt und eine wettbewerbsfähige Alternative geschaffen.

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Die dritte Innovation besteht darin, dass die Überreste nach der Pilzernte mit essentiellen Aminosäuren angereichert werden, darunter Lysin, ein hochwertiges Enzym, das traditionell aus Zuckerrüben gewonnen wird. So wird ein wertloses Nebenprodukt in hochwertiges Tierfutter für Zuchtvieh oder Haustiere umgewandelt. Prof. Ivanka Milenkovic (Universität Belgrad, Serbien) hat die finanzielle Logik der Weiterverwertung von Nährstoffen und Energie aus landwirtschaftlichen Abfällen über die Pilzkultur bis hin zur Tierfutterherstellung wissenschaftlich nachgewiesen.

Erster Umsatz

Die lateinamerikanische Unternehmerin Carmenza Jaramillo und Ivanka Milenkovic haben dieses Geschäftsmodell durch Aufbau ihrer eigenen Pilzfarmen demonstriert. Die Geschäftsstrategie erwies sich als existenzfähiges Modell. Nach mehr als einem Jahrzehnt haben sich neue Märkte für tropische Pilze von Kolumbien bis Serbien geöffnet. So überrascht es nicht, dass im Jahr 2009 über 100 Betriebe in der kolumbianischen Kaffeeanbauregion El Huila dieses Geschäftsmodell übernommen haben. Jeder, der über Biomasse verfügt, die entweder reich an Koffein oder an Hartholzfasern ist, kann nun wettbewerbsfähig Pilze anbauen. So werden Jobs geschaffen, die Ernährung sichergestellt und Gewinne produziert, wobei gleichzeitig die Nachfrage nach Harthölzern gesenkt und der Kahlschlag von Wäldern bei steigendem Pilzkonsum durch Vegetarier und Feinschmecker unnötig wird.

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Eine zweite Möglichkeit, Umsätze zu erzielen, ist, dass Cafés und Restaurants, die gegenwärtig noch für die Entsorgung von Kaffeeabfällen zahlen, eine symbolische Gebühr an Unternehmer zahlen, die diesen Abfall der Zucht von Speisepilzen zuführen, die wiederum in den örtlichen Restaurants verkauft werden können. Hier besteht eine reelle Möglichkeit der Schaffung eines Geschäftsmodells auf der Grundlage der „Vermarktung von Abfällen“. „Abfall“ hatte bisher stets negative Konnotationen und kein Unternehmen wollte seinen Namen in Verbindung bringen mit der Zirkulation von Müll, der Schaden verursacht oder als störend empfunden wird. Dies ändert sich nun.

Die Chance

Abfälle werden nicht verschwendet. Abfälle generieren hochwertige Nahrungsmittel zu niedrigeren Preisen, machen Transporte unnötig, bieten lokale Frischprodukte und verringern die Belastung auf Deponien. Bekannte Caféketten wie Les Deux Magots in Paris oder DoutorCoffee in Tokio könnten ihre Beliebtheit steigern, wenn sich ihr guter Ruf auf die Qualität der Pilze ausdehnt, die auf ihren Abfällen kultiviert werden und Arbeitsplätze schaffen. Stellen Sie sich den added value für alle beteiligten Geschäftspartner vor, wenn fair gehandelte und biologisch angebaute Kaffeesorten wie Max Havelaar ihre Produkte als Ausgangsmaterial bereitstellen! Für die Unternehmer bietet sich eine niederschwellige Geschäftschance, da innerstädtische Restaurants und Cafés sogar für die Bereitstellung der Ausgangsmaterie bezahlen würden und wiederum zahlen würden, um die Delikatessen in ihren Speisekarten anbieten zu können.

Der in Kalifornien ansässige Kaffeegroßhandel Equator unter Leitung von Helen Russell geht noch einen Schritt weiter. Russell und ihr Team schufen eine spezielle Kaffeebohnenmischung und nannten sie Chido’s Blend nach der jungen Waisen aus Simbabwe, Chido Govero, die auf Kaffeefarmen Frauen in der Pilzzucht auf Kaffeeabfallprodukten ausbildet und so Ernährung und Arbeitsplätze sichert und gleichzeitig [sexuellen] Missbrauch und die Ausbreitung von AIDS bekämpft.

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Gleichzeitig bietet Equator seine Abfälle in der Region der San Francisco Bay der jungen Firma BTTR Ventures an, die von Nikhil Arora und Alex Velez, zwei Betriebswirtschaftsabsolventen der Berkeley University, gegründet wurde. Nikhil und Alex sind die ersten, die die auf Kaffeeabfällen angebauten Pilze als Marke handeln. Es überrascht nicht, dass die beiden im Magazin Newsweek unter den 25 Jungunternehmern des Jahres 2009 genannt wurden. Helen Russells Unternehmen expandiert, generiert Kapital für Chido und Wachstum für Nikhil und Alex, während Kaffeeabfälle zum Markenprodukt werden.

Dieses neue Geschäftsmodell könnte sich für Cafés in Istanbul oder Kairo bis hin zu Kaffeefarmen auf Hawaii, in Indonesien, Kamerun und Jamaika bewähren. Teefarmen in Kenia und Indien sowie Apfelbaumpflanzungen in Südafrika und Chile im hart umkämpften Obstmarkt können durch Vermarktung ihrer Biomasse ähnliche Möglichkeiten nutzen wie die für den Kaffee beschriebenen. Eins haben sie gemeinsam: den Bedarf an Unternehmern, die sich der Herausforderung stellen.

Bilder:
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